+ Gestatten, Don Quichotte!

 (Literaturkonzert)

 

I

 

Es war ein verregneter, wolkengrauer Mittwochmorgen. Fliederstein war gerade aufgewacht. Er blinzelte zur Zimmerdecke. Atmete. Hörte seinen Atem. Er richtete sich im Bett auf und griff nach einem Buch, das auf seinem Nachttisch lag. Ein blau eingefasstes Buch. Das er schon hundert und hunderte Male gelesen hatte, das er sich Kapitel für Kapitel ins Gedächtnis geprägt hatte. In dem die Geschichte vom erfindungsreichen Ritter Don Quichotte von der Mancha in verschnörkelter alter Schrift gedruckt war. Das geheimnisvolle Blaue Buch. In das Fliederstein mit Tinte unzählige Anmerkungen und Korrekturen, ja, auf Einlegezetteln sogar Entwürfe zu neuen Kapiteln hineingeschrieben hatte. Denn die Geschichte vom erfindungsreichen Ritter sollte niemals enden, so hatte es Fliederstein beschlossen. Jeden Abend vor dem Einschlafen, manchmal eine ganze Nacht hindurch, und jeden Morgen nach dem Aufwachen las er in dem Blauen Buch. Auch an diesem wolkenverhangenen Mittwochmorgen. 

Als er später dann im Badezimmer in den Spiegel sah, erkannte er sich nicht. Ein fremdes Gesicht schaute ihn aus dem Spiegel an. Es war das Gesicht von Don Quichotte. Fliederstein musste darüber nicht nachdenken, er sah es auf Anhieb. Und er wunderte sich auch nicht. Er begrüßte sein Spiegelbild mit einem freundschaftlichen Nicken und sagte: «Da bist du ja endlich!» Und er fügte hinzu: «Du bist jetzt der Chef!»

Nein! Fliederstein verwarf es. Wie hörte sich das denn an! War das die Sprache Don Quichottes? Er versuchte es noch einmal: «Ihr seid jetzt der Herr!» sagte er zu seinem Spiegelbild. 

Später stand Don Quichotte unter der Dusche. Duschte sich das Mittwochsgrau von der Seele. Fühlte sich auf einmal wie neu in die Welt geschickt. 

Als Don Quichotte schließlich in der Küche am Frühstückstisch saß, freute er sich, dass er tags zuvor eine Dose spanischer Orangen eingekauft hatte. Er öffnete die Dose und legte die Orangenstücke auf seinem Teller zu einer großen runden Sonne aus. Dann schloss er die Augen. Ließ seinen Gedanken freien Lauf. Und begann damit, die Welt umzubauen.


 

Balada

 

Don Quichotte entschließt sich, aus Gedankenstücken

Eine blaugemalte Welt zu schaffen,

Blau die Häuser, blaugemalt die Brücken,

Blau, sofern entstehend, die Giraffen.


Ohne Schöpferplan will Don Quichotte beginnen,

Doch ins Blaue zielt er absichtsvoll,

Um dem Graugemalten zu entrinnen,

Das in seiner Welt nicht gelten soll.

 

Reines Blau ergießt sich wie aus Himmelskannen

Über Don Quichottes gedachte Welt,

Bläue schäumt in allen Badewannen,

Die er sich in seine Häuser stellt,


Veilchenblaugemalt beginnt der Mittwochmorgen,

Pflaumenblau lässt Don Quichotte ihn gehn,

Blaue Mädchen haben blaue Sorgen,

Blaue Witwen können sich im Spiegel drehn.


Don Quichotte – als leite ihn ein Zauberwort –

Nickt zu allem, lächelt, und dann hebt

Er die blaugemalte Welt mit Händen hoch und schwebt

Samt der Welt ins ungefähre Blaue fort …


 

Don Quichotte öffnete die Augen. Die Sonne hatte sich über die Häuser der kleinen Stadt erhoben, in der er seit Ewigkeiten wohnte. Hier war er einmal Schornsteinfegermeister gewesen. Bis zu dem Tag, da ihn eine Taube, die im Sturzflug auf ihn zugesteuert kam, vom Dach gestoßen hatte. Weich fiel er damals in ein Gartenbeet, stand auf, schüttelte sich den Schrecken aus den Gliedern und sagte zu sich selbst: «Du bist ein Glückspilz!» Noch am gleichen Tag hängte er den Schornsteinfegerberuf an den Nagel und wollte künftig als Politiker arbeiten, denn ein Glückspilz, so glaubte er, sei geradezu verpflichtet, in diesem Beruf tätig zu werden. Aber er kam mit den Wörtern der Politik nicht zurecht, und so ließ er von dem Vorhaben ab und spielte auf gut Glück Lotto. Und gewann. Hin und wieder. Gerade so viel, dass er davon leben konnte. Dass er sich Zeit nehmen konnte zum Lesen und zum Erfinden neuer Abenteuer. Denn das war seine Leidenschaft. 

Don Quichotte holte sich das Blaue Buch vom Nachttisch. Und er hatte auch schon die Stelle gefunden, wo es hieß: Aber der Ritter konnte nimmermehr aufhören, in seinen Büchern zu lesen, dass er die Nächte damit zubrachte, weiter und weiter und die Tage, sich tiefer und tiefer hineinzulesen, und so kam es vom wenigen Schlafen und vielen Lesen, dass sein Gehirn austrocknete, wodurch er den Verstand verlor. 

Don Quichotte schaute vom Blauen Buch auf. Er schüttelte den Kopf. Redete. Redete auf sich ein. «Umgekehrt! Genau umgekehrt ist es gekommen! Das Gehirn hat sich beim Lesen geweitet! Der Verstand ist erblüht!» Und zärtlich strich Don Quichotte über das Blaue Buch. «Was für ein wunderbares Wort», murmelte er, «erblüht!» Und weiter las er: Als es mit dem Verstand des Ritters dahin gekommen war, erschien es ihm nützlich und nötig, sowohl zur Vermehrung seiner Ehre als zum Besten seiner Republik, ein fahrender Ritter zu werden und mit Rüstung und Pferd durch die Welt zu ziehen, zuvörderst den Mächtigen zu wehren und den Schwachen zu helfen, auch eine Liebste zu suchen, die er Dulzinea heißen wollte, und überhaupt die Welt zu retten, auf dass er mit Ruhm seinen Namen und auch die Namen der Menschen und Dinge schmücke. 

Don Quichotte ließ das Blaue Buch sinken. Er dachte über das Gelesene nach. Dann fügte er mit dem Bleistift, der am Buchrücken festgemacht war, eine Korrektur ein: … zuvörderst den Wörtern der Mächtigen zu wehren, korrigierte er, – Wörtern – untertrichen. Und eine weitere Korrektur wollte er vornehmen. Die kleine Stadt, in der er bis heute gewohnt hatte, hieß Steinelbömm: «Ich nenne die Stadt von nun an Argamasilla de Alba» entschied er.


 

Recitativo


Und so ordnen sich die Dinge

Nach dem Blauen Buch und werden 

Neu erdacht von Don Quichotte.

Und er schreibt Gedankenzettel,

Dulzinea schreibt er drauf und wirbelt

Alle Zettel aus dem Fenster,

Trägt der Wind sie auf die Straße,

Ruft der Wind nach Dulzinea …


 

In der kleinen Stadt Argamasilla de Alba war der Pferdemetzger Hajo Gummflitscher Don Quichottes Nachbar. Und so änderte Don Quichotte nun auch den Namen des Pferdemetzgers nach dem Blauen Buch in Sancho Panza el sentido común. 

Er wollte seinen Nachbarn künftig Sancho rufen. Oder: Freund Sancho Panza. Und kaum hatte Don Quichotte diese Entscheidung getroffen, war von gegenüber die Frau des Pferdemetzgers mit höllischem Spektakel zu hören, wie sie es manchmal morgens anzettelte, wenn Hajo Gummflitscher, der jetzt Sancho hieß, wieder einmal einen Kater hatte und nicht aus dem Bett wollte. «Raus mit dir, du Saufkittel!» kreischte Frau Gummflitscher. Und: «Du wirst deine Strafe bekommen, der Himmel sieht alles!» Und: «Das Auto hast du gegen die Wand gefahren!» Und: «Einen Tritt in den Hintern!» Und: «Sonst kriegst du gar nix, deinen Anteil hast du längst versoffen!»

Dann war es eine Weile still. 

Gegenüber schlug die Haustür. 

Und gleich darauf guckte der Pferdemetzger, bibbernd vor Angst, bei seinem Nachbarn durchs Küchenfenster und stammelte mit schwerer Zunge: «Hilfst du … hilfst du mir? Wir bringen sie um! Weil: Sonst muss ich es alleine tun, und das kann ich nicht! Ich bin ein friedlicher Mensch!» 

Don Quichotte war ans Fenster getreten. Er schob das Kinn vor und verkündete nun mit ritterlich angehobener Stimme: «Wir reiten in die große Stadt Barcelona!»

«Ist dir … dir nicht gut?» erkundigte sich der Pferdemetzger und bemühte sich, aus dem Gesicht des Nachbarn eine Antwort auf seine Frage herauszulesen. «Aber wieso denn, du … du hast doch keine Frau! Bitte: Du musst mir helfen! Du … du bist mutig!»

«So ist es, Freund Sancho! Ein Ritter bin ich!» entgegnete Don Quichotte. «Dein Ritter bin ich! Und du wirst fortan Sancho Panza, mein Stallmeister sein, so ist es beschlossen.»

«Alles, was du willst, wenn du sie nur ein bisschen umbringst …»

«Außerdem, Freund Sancho, du wirst unsere Reisekasse führen, für derlei Alltäglichkeiten bin ich nicht gemacht.» Don Quichotte reichte dem Stallmeister einen Geldbeutel durchs Fenster, den er aus dem Küchenschrank genommen hatte. «Ich habe gespart. Und meine Liegenschaften werde ich veräußern», fuhr er dann fort, «von meinem Reichtum ernähren wir uns beide.»

«Liegen … liegenschaften?» fragte Sancho. «Du willst dein … dein Haus verkaufen?»

«Alles werde ich hinter mir lassen, Freund Sancho, und alles soll künftig sein, wie es im Blauen Buch erzählt wird, wo es heißt: Der Ritter war in den Fünfzigern, war von frischer Konstitution, und ein Leben in einschläfernder Sesshaftigkeit wollte er sich nicht länger aufbürden.

«Dieses … dieses Blaue Buch, ich weiß es ja»,  entgegnete Sancho Panza, «du hast dich da bis zum Verrücktwerden reingefressen, aber … da steht doch auch eine Menge Unsinn drin, oder?»

«O, du mein Sancho, o, du heilige Einfalt, wie soll ich dich an meiner Seite ertragen, wenn …»

«… ja, ja, ist ja schon gut! Der Schnaps hat mir den Verstand verhagelt, behauptet meine Alte. Vielleicht hat sie recht. Also werde ich einfach die Klappe halten.»

«Hajo, du Bullenhirn!» war in diesem Augenblick von gegenüber zu hören. «Das Frühstück steht auf dem Tisch! Wo bleibst du denn, du Dummflitsch!»

«Ich geh da nie wieder rein!» wimmerte der Stallmeister Sancho. Und mit einem Seufzer der Erleichterung setzte er hinzu: «Wir reiten, hast du gesagt? Wohin?»

«Ins ungefähre Blaue fort!»

«Ist das weit genug weg? Ich meine: Wo liegt denn das?»

«Hinter den Toren der großen Stadt Barcelona!»

«Schön, wunderschön! Und was machen wir da?»

«Wir retten die Welt.»

«Aha. Ja, das machen wir. Und wie machen wir das?»

«Ich werde es dir sagen, wenn du es verstehst. Du bist noch nicht so weit.»

«Egal, egal, ich versteh nur Bahnhof, aber meinetwegen, nix wie los und nix wie weg! Unser Auto hat Totalschaden, gestern Abend, keine Ahnung, wie das passiert ist – aber zwei Gäule stehen hinten im Stall, die wollen geschlachtet werden, aber wenn du unbedingt reiten willst, und du nimmst mich mit, na, dann! Brave Viecher, ich schwörs, die greifen wir uns, aber leise, meine Alte schlägt mich grün und blau, wenn sie uns dabei erwischt. Dann also nix wie ab durch die Landschaft!» 

So geschah es. Don Quichotte und sein Stallmeister holten sich in aller Heimlichkeit die Pferde, und Sancho zog sie den Weg entlang, der in Richtung auf die große Stadt Barcelona führte, wie es ihm Don Quichotte erklärt hatte. «Bei meiner Alten weiß man ja nie … vielleicht reibt sie sich grade die Hände, weil sie mich endlich los ist», murmelte Sancho Panza und lachte leise vor sich hin. 

Schließlich saßen Ritter und Stallmeister auf und trabten davon. Über ihnen die Spatzen zwitscherten die Telefondrähte entlang. 

 

 

Recitativo


Immer sind in Barcelona

Blau der Himmel, blau die Steine,

Dulzinea sitzt am Fenster,

Bunte Schmetterlinge scheucht sie,

Bläst den Staub von Ritterköpfen,

Die vorüberreitend grüßen

Und von Don Quichotte erzählen …



Mit erhobenem Regenschirm ritt Don Quichotte vorneweg auf der Rosinante – diesen Namen hatte er nach den Vorschriften des Blauen Buchs seinem Pferd gegeben – und den Regenschirm, den er vom Garderobenhaken genommen hatte, erklärte er jetzt zu seiner Lanze. 

«Das ist aber, wenn du mich fragst, ein Regenschirm», widersprach der Stallmeister, der hinterdrein ritt.

«Du wirst lernen, Freund Sancho», entgegnete Don Quichotte, «dass die Dinge als das zu sehen sind, was sie wirklich sind: Dieses hier ist eine wirkliche Lanze!»

«Aha. Eine wirkliche Lanze!» kam es als Echo von Sancho Panza.

«Und eine wirkliche Rüstung», ergänzte Don Quichotte «habe ich soeben in Gedanken angelegt!»

«In Gedanken angelegt … aha!» Sancho Panza nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann, den er im Brustbeutel mit sich führte. «Und warum … wie soll ich es sagen, so verdreht das Ganze von wegen in Gedanken angelegt?»

«Nun, weil es das Blaue Buch so erzählt!» Don Quichotte hatte das Buch aus seiner Jackentasche gezogen. Er blätterte und hatte auch schon die Stelle gefunden, wo es hieß: Der Ritter aber sah in seinen Gedanken alles, was man nicht wirklich sehen konnte. Diese Stelle las er dem Stallmeister zweimal vor. Und weiter las er: Und es verwandelten sich dem Ritter die sichtbaren Dinge der Alltäglichkeit in die Wonnen seiner Fantasie. 

«Verwandelten sich … aha!» kam es als Echo von Sancho Panza.



Recitativo


Sah man jemals einen Ritter

So mit steilgestellter Lanze? 

So die schwere Rüstung tragend?

Vorgeschoben ist das Kinn,

Und die Nasenflügel beben.

In der Ferne Barcelona

Ruft den Ritter. – Hinterdrein

Schnapsbeseelt trabt Sancho Panza. 



Nachdem die beiden Reiter die kleine Stadt Argamasilla de Alba hinter sich gelassen hatten, genehmigte sich der Stallmeister Sancho wieder einen guten Schluck aus seinem nur locker verstöpselten Flachmann. «Freiheit, du schmeckst nach mehr!» murmelte er und nahm einen zweiten Schluck. Alle Angst und alles Bibbern waren jetzt von ihm gewichen. Eine wohlige Wärme durchströmte ihn. Vor seinen Augen vernebelte sich die Welt zu einem großen Topf, in dem eine Pferdemetzgersfrau zu einer lieblichen Elfe verkocht wurde, und nach einer Weile stimmte Sancho ein frommes Lied an, das er oft zusammen mit seinem Freund, dem Pastor, gesungen hatte, wenn sie beim Selbstgebrannten zusammen im Kirchenkeller hockten. «Dem Himmlischen da oben», hatte ihm der Pastor erklärt, «muss man zuweilen die Meinung geigen, genauso, wie den Verzagten hier unten!» Das fromme Lied sang Sancho Panza nun mit schwerer Zunge und aus vollem Herzen, denn er liebte dieses Lied, vor allem die letzte Strophe, die ihm der Pastor in einem Moment höherer Eingebung und auf Sanchos ausdrücklichen Wunsch dazugedichtet hatte.



Canción del pastor


Gott, oh Gott, warum – ich wüsst es gern –

Hast du mich in diese Welt geschickt?

Jagst mich runter von dem Glitzerstern,

Hast mich aus dem Hort der Seligen gekickt.


Treibst mich durch die Jahre, machst mich alt,

Schweigst, wenn ich nach Hauptgewinnen frage,

Lässt mich, wie ich bin, auch zugeknallt

Branntweinmäßig. Lieber Gott, ich schlage


Vor: Ich geh dir künftig aus dem Blick.

Dein Gelauer oben runter stört mich sehr.

Hockst mir, alles besser wissend, im Genick,

Lässt mir keine Luft zur Gegenwehr.


Du, ich werde mich von nun an wehren

Gegen dich und deine Vormundschaft,

Meine Pläne reifen noch im Ungefähren,

Aber bald erlebst du sie als dauerhaft.


Losgelassen streif ich dann durchs Leben

(insofern hat sich der Kick dann doch gelohnt),

Bald benehm ich mich aus eigner Kraft daneben,

Denn der Himmel ist für mich jetzt unbewohnt.


Gott, oh Gott, was hältst du von der Sache?

Sagst du’s meiner Frau, wenn sie mich sucht? 

Bleibst du mir gewogen, wenn ich’s mache?

Bleib ich auf Verdacht bei dir gebucht?


 

Unversehens schien es Sancho Panza, dass er eine Stimme hörte, die ihm eine Antwort auf alle seine Fragen zurief. War diese Stimme himmelabwärts gekommen? Oder war es womöglich eine Donnerstimme hinter ihm, die Stimme einer längst verkochten Pferdemetzgersfrau in Steinelbömm? 

 

Kannst auf keine Milde hoffen,

Hast dich um dein Glück gesoffen! 

 

… rief die Stimme zweimal, dreimal. Sancho Panza, tief erschrocken, trieb sein Pferd zur Eile an.


 

II


Stunde um Stunde waren sie geritten. Immer geradeaus. Don Quichotte vorneweg, von der großen Stadt Barcelona träumend, Sancho Panza hinterdrein, ein ums andere Mal seinen Flachmann bemühend, der ihm über der Brust baumelte.

Am Ende eines Feldweges war ein amtliches Schild aufgestellt: Gemeinde Wachtendonk 7 km. Von dort kam ihnen ein Trupp laut schnatternder Freizeitsportlerinnen entgegen. 

«Meine Alte, wenn sie der Teufel reitet, macht das Gehoppe mit den Stöcken auch!» brummte Sancho beim Anblick der Frauen. «Immer sonntagmorgens durch den Wald juche!» 

Don Quichotte fragte über die Schulter: «Ob eine unter den Damen meine Dulzinea ist?»

«Na, hoffentlich nicht!» antwortete Sancho. «Von den Weibern dieser Welt müssen wir uns fernhalten, Herr Ritter! Aus Sicherheitsgründen!» Wieder nahm er einen Schluck.

Aber Don Quichotte wollte vom Fernhalten gar nichts wissen. Er zügelte seine Rosinante, stieg ab, ging festen Schrittes auf die Freizeitsportlerinnen zu und kniete mit großer Verbeugung vor ihnen nieder. «Gestatten, Don Quichotte», rief er, «Don Quichotte aus der Stadt Argamasilla de Alba, fahrender Ritter und ein Bewunderer der Frauen, und ich weiß, eine unter Euch ist die edle Dulzinea von Toboso! Sie möge mir die Ehre erweisen und sich zu erkennen geben!» 

Die Freizeitsportlerinnen waren verdattert stehen geblieben. Kicherten. Eine Dicke sagte: «Herr Ritter, da bleibt einem ja glatt die Spucke weg!» 

Eine Piepsstimmige sagte: «Ich, Herr Ritter, bin es vielleicht, Eure Dulzitralala!» 

Wieder wurde gekichert. 

Eine Triefäugige sagte: «Was krieg ich denn, wenn ich es bin?» 

Und eine Sonnenbebrillte sagte: «Schluss mit dem Gegacker, der Herr Ritter gerät ja ganz aus dem Häuschen. Nämlich: Ich bin es!»

«Ihr, Verehrungswürdige, könnt es aber nicht sein», widersprach Don Quichotte. «In Eurem Blick sehe ich den Schimmer der welkenden Lilie. Die Augen jedoch meiner Dulzinea spiegeln das Blau der schlafenden Veilchen!»

«Oh, der Herr Ritter redet wie mein Friseur!» quietschte verärgert die Sonnenbebrillte. «Wie wär‘s denn, wenn er uns mal den Weg freigeben würde, der Herr Ritter!»

«Jawoll!» fügte eine Speckbackige hinzu. Im gleichen Augenblick hatte sich der Trupp der Freizeitsportlerinnen kichernd und schnatternd auch schon wieder in Gang gesetzt, war an Don Quichotte vorbeigestöckelt und hatte den Weg zu einem nahe gelegenen Wald eingeschlagen. 

«Ich werde ihr noch heute begegnen, ich weiß es!» rief Don Quichotte seinem Stallmeister zu, nachdem er wieder auf seine Rosinante gestiegen war.

«Wem, Herr Ritter?»

«Meiner ewig schönen Dulzinea von Toboso!»

«Woher kennen Euer Gnaden denn die Schöne?» wollte der Stallmeister wissen, der sich vorgenommen hatte, mit dem Ritter, so gut er’s vermochte, fortan nur noch in der Rittersprache zu reden. Aus Verständigungsgründen.

«Ich kenne sie noch nicht», antwortete Don Quichotte, «aber ich sehne mich nach ihr.»

«Aha. Wie sieht sie denn aus, Eure Schöne?»

«Ich weiß es nicht. Ich bin auf der Suche nach ihrem Bild.»

«Aha. Die Schöne interessiert Euch also sozusagen nicht in Wirklichkeit?»

«Sie ist sogar der wirklichste Teil von mir selbst, Stallmeister, denn so steht es im Blauen Buch geschrieben: Don Quichotte kam zu der Erkenntnis, dass er dereinst eine Dame finden werde, in die er sich auf ewig verlieben sollte, denn ein fahrender Ritter ohne die Liebe zu einer Schönen ist wie ein Baum ohne Laub und Frucht! Aber, Stallmeister, das verstehst du noch nicht!

«Na, wenn das erst mal alles ist», murmelte daraufhin der Stallmeister in der Stallmeistersprache, «kann uns das Weibsstück ja noch eine Weile gestohlen bleiben!» Und sie ritten weiter.


 

Recitativo


Einem Ritter stellen manchmal

Auf den sommerlichen Wiesen

Schöne Frauen sich entgegen,

Und er schwitzt in seiner Rüstung.

Doch schon täuschen ihn die Zeichen,

Sind wie Vögel aufgeflogen,

Und der Ritter sucht noch lange

Nach dem Bild von Dulzinea …


 

Gegen Abend erreichten sie eine Waldschänke. Die Pferde wurden an einem Baum festgemacht, um den herum saftiges Gras wuchs, und Ritter und Stallmeister gingen in den Schankraum. Dort saß an einem der Tische, jetzt ohne ihre Sonnenbrille, eine der Freizeitsportlerinnen vom Nachmittag und küsste sich gerade mit einem Flachsblonden. Don Quichotte, der beim Hereinkommen die Küssenden bemerkte, sagte laut: «Ich habe sie gefunden!» Er ging auf den Tisch zu, verbeugte sich vor dem Flachsblonden und sagte: «Wir sind es, Don Quichotte aus Argamasilla de Alba in Begleitung seines Stallmeisters Sancho Panza el sentido común! Wir erklären: Ihr, hochwerter Herr, und ich, der fahrende Ritter Don Quichotte, wir werden nunmehr um die schöne Dulzinea von Toboso kämpfen!» 

Dem Flachsblonden verengten sich die Augen: «Ihr beiden Kuhstallkanaillen zieht auf der Stelle den Schwanz ein, oder es rumst!» fauchte er. Da aber hatte Don Quichotte schon seine Lanze auf den Flachsblonden gerichtet. «Hochwerter Herr», donnerte er ihn an, «ich wünsche eine ritterliche Sprache zu hören in Gegenwart meiner Dame!»

In der Schänke wurde es still. 

Der Flachsblonde lachte plötzlich laut auf, erhob sich, packte den Regenschirm, der auf ihn gerichtet war, zog ihn nahe an sich heran und sagte: «Hör zu, du Clown, soll ich dich auffressen?» Und wie vom Blitz gesteuert landete die Faust des Flachsblonden auf Don Quichottes linkem Auge.

«Aber meine Herren, meine Herren», mischte sich der Schankwirt ein, «wir wollen hier doch nichts zu Bruch gehen lassen, ich habe gerade renoviert!» Und die Freizeitsportlerin, den Flachsblonden heftig anhimmelnd, flötete: «Knusperl, lass doch den armen Irren, willst du dich an so einem unglücklich machen!» Sie drehte sich zu Don Quichotte um und streckte ihm die Zunge heraus.

Gelächter. Bravorufe. Der Lärm schwoll an in der Schänke. «Ruhe!» wurde aus einer Ecke gerufen. «Weitermachen!» wurde dagegengehalten. Der Stallmeister Sancho raufte sich die Haare, denn der Flachsblonde zog nun Don Quichotte am Regenschirm durch den Schankraum. Der stolperte zwischen den Tischen herum. Dann ging er zu Boden. Ohne einen Laut. Und da saß er nun und wischte sich Blutstropfen von der Stirn. 

Sancho Panza wollte seinem Ritter aufhelfen, aber Don Quichotte wehrte ihn ab: «Lass er das, Stallmeister», kam es ächzend, «ich werde … ich werde Verzicht leisten müssen auf die hier gegenwärtige Dulzinea von Toboso!» 

Der Flachsblonde wollte sofort wieder in den Kampf ziehen, denn er hatte die ritterlichen Worte als Beleidigung ausgelegt. Aber Don Quichotte stoppte den Heranstürmenden mit großer Gebärde, rappelte sich auf die Beine und sagte: «Warum sollte ich diese besitzen wollen, wenn ich sie doch wiederfinden kann in den Blicken der anderen!» Erhobenen Hauptes, das allmählich fliederblau anlaufende Auge mit einem Taschentuch abtupfend, verließ Don Quichotte den Schauplatz. 

Einen Moment lang war es still in der Schänke. Dann wurde wieder gelärmt und gelacht. 

Sancho Panza lachte tüchtig mit, denn er sagte sich, wenn sie mich bei Laune sehen, hauen sie mir nicht den Buckel voll. Er ließ sich gegen Sofortzahlung vom Wirt mit Brot und Bier versorgen – ein Zimmer habe er für Radaubrüder nicht zu vermieten, erklärte der Wirt – und so folgte der Stallmeister seinem Ritter hinaus in die Nacht. 

Don Quichotte hatte sich bei den Pferden unter dem Baum niedergelassen, und er schien glücklich zu sein. Er schaute zum Mond hinauf, der rund wie eine Zitronenscheibe über der Schänke hing. «So wird es doch im Blauen Buch erzählt, Freund Sancho! Genauso! Der Ritter erklärte die schöne Dulzinea von Toboso zur Herrin seiner Gedanken, also, dass sie ihm eines fernen Tages erst vor Augen kommen sollte, und er sie suchen musste in den Blicken der Anderen. Und darum, Freund Sancho, hat man mich heute – was für ein Glück! – zu Boden gestreckt.»

«Glück hin oder her, Euer Gnaden, wir sollten uns mal ums Essen kümmern, wenn‘s recht ist, denn so steht es, denke ich, auch in Euerm Buch!»

«Wie könnte ich ans Essen denken in einem Augenblick, da ich für sie singen möchte!» 

Und sehnsuchtsvoll sang der Ritter nun seiner Dulzinea das Lied der Liebe, und die Hühner im Stall gackerten den Rhythmus dazu.


 

Canción de amor


Dulzinea von Toboso, 

Deine Wimpern schlagen leise,

Deine Augen malen Kreise,

Deine Lippen glühen rot.

Dulzinea von Toboso, 

Ach, so sternenferne Schöne,

Du, ich seh dich nur in Schatten,

Welche mir die Nächte werfen.


Dulzinea von Toboso, 

Ach, wann werd ich dich berühren,

Denk dich hinter tausend Türen,

Träum die Sehnsucht bis zum Tod.

Dulzinea von Toboso, 

Ewig will ich nach dir suchen,

Seh dich hinter allen Blicken

Und Gedanken unenträtselt …



Der Schlaf kam langsam. 

Zwischen Wachen und Träumen … sah Don Quichotte sie dann! Dulzinea! War sie es? Er schob das linke Augenlid mit dem Zeigefinger einen Spalt weit nach oben … im Garten neben der Schänke … war das … war es eine Figur aus Stein? … War sie es? … Dulzinea?

 

 

Oració

 

Don Quichotte spricht ein Gebet:

Gott, oh Gott, dem nichts entgeht,

Mach mich stark, im Garten hockt

Hüllenlos ein Weib und lockt!

Ihre Schenkel sind von Stein,

Stein ist alles, alles, n–n–n–ein,

Eben jetzt wird die Figur

Packend fleischliche Natur,

Ihre Schenkel, ihre Arme,

Ihre … Gott, oh Gott, erbarme

Dich des Ritters, der mit schlechten

Kleinen Lüsten in den Nächten

Unter deinen Sternen hockt,

Ach, sie lockt und lockt und lockt,

Amen, amen …


Irgendwann war Don Quichotte eingeschlafen. Der Stallmeister, nachdem er sich mit Brot und Bier gestärkt hatte, dann auch. Der erste Tag der Reise in die große Stadt Barcelona war zu Ende gegangen. Der gelbe Mond guckte auf die Schlafenden hinunter.

 

 

III


Recitado


Und die Nacht vergeht in schwirren

Stunden, und der Mond erlischt.

Schon bemalt die Morgenröte

In den Gärten die Gladiolen,

Große Abenteuer rufen

Auf dem Weg nach Barcelona,

Und in Ritteraugen glänzt es.

Sancho Panza knurrt der Magen …



Beim Aufwachen murmelte Don Quichotte: «Ich habe von ihr geträumt …» 

«Von wem?» erkundigte sich der Stallmeister gähnend.

«Von ihr … Dulzinea von Toboso … nackt so nackt geschenkte Schöne … manchmal denke ich, Freund Sancho, wenn ich mich reden höre, wie gerade jetzt: Wäre ich nicht zum Ritter geworden, ich könnte auch ein Wort-Erfinder sein … ach, ich habe es gesehen … heimlich nachts geträumtes Lächeln, das verschenkend näher kam …»

«Na, ich auch! Geträumt! Und wie!» fiel Sancho Panza dem Ritter ins Wort. «Meine Alte hatte sich in meinem Traum in eine Madonna verwandelt, könnt Ihr Euch das vorstellen, Herr Ritter? In eine Madonna aus Gips, und ich habe ihr einen Kaktus zwischen die Brüste geschoben, na, und da ist der Gips aber lebendig geworden, kann ich Euch sagen!»

«Träume sind die Wirklichkeiten des Ritters …» murmelte Don Quichotte. Er ging zu einer Regentonne, die am Haus stand. «Stallmeister», rief er, «es ist an der Zeit, ein Morgenbad zu nehmen!» Aber Sancho wollte sich dazu nicht überreden lassen. Er ging in den Schankraum, um fürs Frühstück einzukaufen.

Mit einem Laib Brot und einem großen Stück Käse kam Sancho Panza zurück. «Außerdem eine Palette Bier, na, und Orangensaft!» rief er Don Quichotte zu, der sich gerade einige Spritzer Regenwasser unter die Arme gewedelt hatte. «Frisch gepresst aus bester spanischer Ernte, sagt der Wirt, und dass wir uns auf die Socken machen sollen, sagt er auch, sonst holt er die Polizei!»

«Ein Ritter fürchtet sich nicht! Schon gar nicht an einem sonnenübergossenen Morgen wie diesem!» entgegnete Don Quichotte. Er schob das Kinn vor und hängte seiner Rede ein «Ha!» hinten an.

«Außerdem glaubt der Wirt es nicht», setzte Sancho Panza hinzu, «nämlich, dass Ihr leibhaftig, will ich mal sagen, ein Ritter sein könntet. Ja, er behauptet sogar: Ihr selbst würdet nicht dran glauben, er habe es Euch angesehen!»

«Was weiß denn dieser Traumlose von meinen Wirklichkeiten!» entgegnete Don Quichotte. 

Nach dem Frühstück zogen sie weiter. 

Gegen Mittag führte sie der Weg an einer großen Wiese vorbei, und als Don Quichotte, von der Sonne beschienen und heiter gestimmt, eine Cancioncita zum Ruhme der unsterblichen Liebe zu singen sich anschickte, ließ ihn heranrollendes Stampfen jäh verstummen … 

 

 

Cancioncita de añoranza


Wiesen, ihr Wiesen in schwimmendem Grün,

Mohn über Mohnkelche drüber geworfen,

Ach, Dulzinea, Frau in den Winden,

Wünsch ich dich näher, ach, Dulzinea,

Sieh mich im Kampf 

Mit den wirbelnden Winden,

Sehnsuchtsvoll Winde zu Wünschen 

Verwandelnd …



«Da kommt aber was auf uns zu, Herr Ritter!» rief Sancho Panza. «Da! Guckt Euch das an!»

Don Quichotte hatte die Hände über der Brust zusammengeschlagen. «Ist das nicht ganz und gar erstaunlich, Freund Sancho!» entgegnete er. «Genauso geschieht es jetzt, wie das Blaue Buch es erzählt: Also war Don Quichotte mit seinem Stallmeister weiter und weiter geritten, als er mit einem Male einen gewaltigen Staubwirbel bemerkte, der ihm auf seinem Weg entgegentrieb. Und er wandte sich um und sagte: Dieses ist der Tag, oh, mein Sancho, an welchem ich die Mächtigen verstummen mache, auf dass es in den Büchern des Ruhmes vermerkt sei!

Eine Wolke von Schafen war es, die über die Wiese gestürmt kam. Und aus der Gegenrichtung, so hatte es für Sancho den Anschein, donnerte im gleichen Moment, von hechelnden Hunden gehetzt, eine Herde von Hammeln auf die Schafherde zu. Ein Schauspiel, das den Stallmeister Sancho in Alarm versetzte: «Diese blöden Viecher – wenn die uns mal nicht in die Quere kommen!» Da aber war Don Quichotte auch schon von seiner Rosinante gestiegen. War in den Staubwirbel hineingelaufen. Und jetzt schrie er über den Staub und das Stampfen der Hammel und Schafe hinweg: «Hörst du sie? Die Mächtigen, Freund Sancho?»

«Geblöke hör ich», rief Sancho Panza, «kommt zurück, Herr Ritter, das kann gefährlich werden!»

«Ihre Stimmen!» schrie Don Quichotte. «Ihre Wörter! Hörst du sie? Die Wörter der Mächtigen!»

«Geblöke! Kommt zurück!»

«Mit ihren Wörtern zerstören sie die Welt! Hörst du das denn nicht, Stallmeister!» Don Quichottes Stimme überschlug sich. «Sie wird untergehen, die Welt, wenn ich sie nicht rette!» 

«Kommt zurück!»

Don Quichotte war stehen geblieben. Inmitten der heranstampfenden Tiere. 

Wurde umgerissen. 

Kam wieder auf die Beine. 

Drehte sich um sich selbst. 

Fiel zu Boden. 

Kam wieder hoch. 

Sah die Schafsgesichter. 

Die Hammelköpfe, die auf ihn zustießen. 

Die sich verwandelten: in die Gesichter der Mächtigen … und in seinen Gedanken fand Don Quichotte sich in einem großen Saal wieder. Von den Mächtigen der Welt umgeben. Da hockten sie: der König von Spanien, der Kanzler, der Papst. Don Quichotte stand in dem großen Saal, stand hinter einem Pult – und vor ihm: Bänke. Rundum war er eingeschlossen von Bänken. Rundum bis hinauf zu den Saaltüren. Und auf den Bänken sitzen sie: die Mächtigen. Und sie drohen. Erheben sich von den Bänken. Drohen ihm mit ihren Gesichtern. Don Quichotte sieht ihre Gesichter, wie sie reden, auf ihn einreden, einblöken. Er hört ihre Stimmen. Hört ihre Wörter. Sieht Wortungeheuer auf sich zurollen: «Stellschraube des Wachstums» … hört er … «disruptiv gescheitert», hört er … «brutalst mögliche Aufklärung», hört er … «Betreuungsgeld durchpeitschen», hört er … «nutzerfinanzierter Fernstraßenbau», hört er … «friedenerzwingende Maßnahme» … «Parlamentsauschaltung … sofortige Stabilisierungswucht! …»

«Ich bin Don Quichotte!» hört er sich rufen. «Ich werde die Welt verteidigen gegen euch und eure Wörter!»

Und plötzlich wurde es still. Don Quichotte vernahm das Sirren eines Schmetterlings, der lautlos über ihn hinwegschaukelte.

Die Welt war auf einmal ohne Wörter. 

Don Quichotte richtete sich auf. Blickte sich um. Der Kopf schmerzte. War er jetzt allein? 

Aber schon sieht er sie wieder. Auf den Bänken hocken sie wieder vor ihm, die Mächtigen der Welt. Und der König von Spanien hebt die Hand. «Herr Professor Don Quichotte», ruft er, «lasst hören, was sagt uns die Wissenschaft über das Wort und seine Bedeutung?»

«Bedeutung», hört Don Quichotte sich antworten, «Akt der Schöpfung», setzt er hinzu, und die Wörter schwirren ihm jetzt aus dem Mund wie Mücken … «an sich ist Bedeutung etwas ohne jegliches Wort, und also ist das Wort zunächst nur als Radill zu bewerten, beziehungsweise auch Glöböll … ist es nicht so? In der Tat, so ist es! Ich darf es Euch erklären, Eminenz!» 

Und Don Quichotte erklärt es. 

Und die Schafe und Hammel stampfen dazu den Wiesenboden.


 

Canción de la palabra


Don Quichotte erforscht das Wort an sich,

Und er klopft es ab auf Wesensart,

Fragt, ob es bedeutungslos 

Sich im Akt der Schöpfung offenbart?

Wortgebilde wie Radill, die Bedeutung steht noch gar nicht fest,

Auch Glöböll ist so gemacht, dass es sich an sich nicht deuten lässt … 

Wörter, die es noch nicht gibt?

Ist Bedeutung etwas ohne Wort?

Stört Gehirn im Wortverbund?

Denkt das Wort sich selber fort?

In Bedeutungen hinein?

Und dann hat man plötzlich einen Sinn?

Ist der Sinn das Ziel? Und was,

Wenn im Sinnerwachen mittendrin

Deutung sich als Nichts erweist?

Was ist Nichts bezüglich auf Radill,

Wenn das Wort den Sinn entstellt?

Die Bedeutung gar nicht will?

Weil im Unsinn die Bedeutung liegt?

Was ist Unsinn, wenn es Sinn nicht gibt?

Kann Glöböll die Antwort sein? 

Tük Glöböll semant filibt?

Fitsch damüwa upsdendreff?

Kommel heser üppel ordetsch nii?

Wort? Bedeutung? Was ist Rauch?

Schalla, Rettich, Kikerii …» 


 

Sancho Panza hatte sich durch das Gewühl der Schafe und Hammel bis zu Don Quichotte durchgekämpft. Half dem Ritter auf die Beine. Klopfte ihm den Staub aus den Kleidern. Tupfte ihm die blutende Stirn ab. Bot ihm einen Schluck aus seinem Flachmann an. «Kopf hoch, Herr Ritter, Ihr seid ja noch am Leben!»

Don Quichotte nickte. Wollte etwas sagen. Brachte aber nur Gestammel heraus. Er nahm einen Schluck. Stolperte ein paar Schritte vorwärts. Dann sagte er leise und langsam: «San … cho … Pan … za …, ich kann deinen Namen aussprechen, Stallmeister … also … habe ich zu den Wörtern zurückgefunden … und … ist das nicht wunderbar, Freund Sancho? Mein Kopf fährt Karussell, ich blute und ziehe das Bein nach … so bin ich doch tatsächlich jetzt der geworden, von dem das Blaue Buch erzählt: Don Quichotte, der Ritter von der traurigen Gestalt! Ist das nicht ganz und gar erstaunlich?» 

Sancho Panza verdrehte die Augen. «Warum seid ihr auch vom Pferd herunter und zwischen die Viecher gelaufen?»

«Weil es das Blaue Buch so erzählt!»

«Und was habt ihr jetzt davon? Einen zerbeulten Schädel und aufgeschrammte Knie! Ganz und gar wunderbar! Was für ein Glück, dass ich Euch nicht hinterhergelaufen bin. Ich glaube, der gesunde Menschenverstand hat mich davor bewahrt.»

«Deine Angst!» widersprach Don Quichotte. «Denn so wird es im Blauen Buch erzählt: Deine Furchtsamkeit – so sprach der Ritter zum Stallmeister – sie macht es, o, du mein Sancho, dass du weder richtig siehst noch hörst! Denn eine von den Wirkungen der Furcht besteht darin, die Sinne zu verwirren und so die Dinge anders erscheinen zu lassen, als sie wirklich sind.» 

Und sie ritten weiter.

Nach einer Weile verwickelte Don Quichotte seinen Stallmeister in ein Gespräch: «Wenn du etwas Heldenhaftes tun willst, Freund Sancho, was machst du dann?» – «Ich tu’s.» – Wenn man dich aber daran hindern will, es zu tun?» – «Dann tu ich’s nicht.» – «Wenn aber der Wunsch in dir so stark ist, es tun zu wollen, dass du darüber den Verstand verlieren könntest?» – «In mir ist aber so ein Wunsch gar nicht vorhanden.» – «In dir als Stallmeister vielleicht nicht. In deinem höheren Ich aber doch!» – «Wo hab ich denn ein höheres Ich?»

Und sie ritten weiter.

«Glaubst du, Freund Sancho, ich könnte einmal den Verstand verlieren?» – «Nein, wieso?» – «Glaubst du, dass ich selbst so etwas glauben sollte?» – «Warum solltet Ihr das tun?» – «Alles um mich herum ist vielleicht nur ein Trugbild, du, mein Sancho, die Straßen, die Bäume. Und im gleichen Augenblick wieder kommt es mir so vor, als sei ich selbst nur ein Trugbild.» – «Halb so schlimm, Herr Ritter, das passiert mir auch schon mal. Meistens morgens, wenn ich mit einem Kater aufwache.» – «Und? Erschrickst du dann vor dir selbst?» – «Na ja, vor mir selbst, was weiß ich? Vielleicht vor diesem höheren Ich, keine Ahnung, aber nicht wirklich vor mir selbst, ich kenn’ mich doch! Am nächsten Tag ist das gegessen.» 

Und sie ritten weiter. 

«Weißt du, wovor ich mich manchmal fürchte, Freund Sancho?» – «Ihr fürchtet Euch? Weil es so in Euerm Buch steht?» – «Ich frage mich dann, bin ich ein Ritter auf ewig und für alle Zeit? Oder … oder sollte ich darauf vorbereitet sein, irgendwann zu einem … einem gewissen … mir … mir spukt da ein Name im Kopf herum … zu einem gewissen  Fliederstein zu werden, der ich meiner Bestimmung nach aber gar nicht sein kann, denn ich empfinde es als eine Verfügung der Natur, Freund Sancho, dass ich ein Ritter geworden bin!» – Der Stallmeister nickte und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann.

Und sie ritten weiter.

Später kamen sie an Gärten und Bauernhöfen vorbei. Eine Radfahrerin überholte sie. Auf der Rückseite ihres T-Shirts war zu lesen: Ritterspiele auf Schloss Burg! Die Radfahrerin blickte sich um. Winkte. Don Quichotte ließ seine Lanze steil in den Himmel ragen. «Auf dass Ihr in mir Euren Ritter erkennt!» rief er der Radfahrerin nach. Die machte ein Handzeichen, als wollte sie sagen: Immer geradeaus! Und dem Ritter schlug das Herz bis zum Hals. Aber da war sie auch schon davongeradelt. «Dulzinea von Toboso! Sie war es!» jubelte Don Quichotte. «Was sagst du, Freund Sancho? Hörst du sie? Sie singt! Sie singt mir das Lied ihrer Begierde!»



Canción de deseo


Komm! Und halt die Winde an!

Nimm den Rosen alles Rot und streu’s

Auf den Straßen aus 

Und lass mich drüber tanzen,

Zieh mich über Zäune, tritt die Türen

Alle ein und bieg die Zeiten um,

Komm, und schleif mich

Hin zum Wörterrauschen,

Hin zum Wünschetauschen …


 

«Hörst du das denn nicht, Freund Sancho?»
«Für derlei Gesänge sind meine Ohren nicht gemacht.»

Und sie ritten weiter.

Die Sonne brannte vom Himmel herunter. Sancho Panza schlug eine Rast vor, aber Don Quichotte verweigerte sie: Einen Ritter erkenne man an seinem Tatendrang, erklärte er. Es war der zweite Tag ihrer Reise in die große Stadt Barcelona. 

Ein ums andere Mal ließ Sancho dann ein Stöhnen hören: «Ob ich das noch lange durchhalte?» Und wenn ihn Don Quichotte fragte: «Freund Sancho, was redest du denn da?»

«Ach, weiß der Teufel, was ich da rede, es kommt von der Hitze, Herr Ritter! Dieses Barcelona ist so verflucht weit weg!»

«Barcelona ist uns näher, als du ahnst, mein Sancho! Wir haben es in unseren Herzen!»

«Ja, das haben wir», kam es dann wie ein dumpf hallendes Echo vom Stallmeister. 

 Und sie ritten weiter.

Sie kamen in ein Dorf. Und nun hielt auch Don Quichotte eine kurze Rast für geboten. Ihm war plötzlich schwindelig geworden, und er fürchtete, unter der sengenden Sonne womöglich den Verstand zu verlieren. Die Pferde wurden an einem Laternenpfahl festgebunden, und Ritter und Stallmeister erfrischten sich an einer Marktbude mit Himbeereis. Sancho Panza machte sich dann auf den Weg, Schinken und ein Paket Dosenbier einzukaufen, Don Quichotte wollte sich unterdessen die Füße vertreten, die ihm auf dem langen Ritt einige Male eingeschlafen waren. 

Vor einem Schaufenster, in dem ein Reiseprospekt auslag, war Don Quichotte stehen geblieben. «Jeden Tag aufs Neue freue ich mich über Himmelsbläue», las er laut vom Prospekt ab.

«Urlaubspläne, der Herr?» fragte ihn jemand.

Don Quichotte wandte sich um: Eine Frau stand neben ihm. Sie war klein, sie schien noch sehr jung zu sein oder vielleicht auch sehr alt. Don Quichotte hielt sie einen Augenblick lang für eine Täuschung, die sich da in seine Wirklichkeiten einzudrängen versuchte: Die Frau lächelte hinter einem Schleier aus grau glitzernden Fäden, ihr Haar hatte sie unter einen rosa Hut geschoben, und es sah aus, als habe sie sich einen Tulpenkelch übergestülpt.

«Jaja, so einen Himmel gibt es nur auf dem Papier, sagte die Frau.

«Ihr werdet es nicht für möglich halten, meine Schöne», entgegnete Don Quichotte, «unter einem solchen Himmel werde ich einmal meine Burg bauen!» 

«Ach, Gottchen, wie aufregend, der Herr sind beruflich bitteschön, was? Ein Burgenbauer?»

«Ein Ritter!»

«Ein fahrender?»

«Wie es sich gehört, meine Schöne! Gestatten: Don Quichotte aus der Stadt Argamasilla de Alba, von Beruf Ritter!»

«Gestatten: Helmchen Bethke, von Beruf Vogelscheuchengestalterin.» 

«Welche Ehre, meine Schöne!»

«Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Herr Ritter», entgegnete die Vogelscheuchengestalterin, und sie zeigte hinter ihrem Schleier ein geradezu bezwingendes Lächeln. «Ach, wie oft habe ich mir vorgestellt», sagte sie, «dass mich ein Ritter einmal in meiner Werkstatt besucht, um mir Modell zu stehen! Würden Sie das für mich tun?» Helmchen Bethke war nahe an Don Quichotte herangetreten, und mit spitzen Fingern hob sie ihren Schleier. «Ich sehe, Herr Ritter», sagte sie, «Sie sind mit Ihrer Lanze unterwegs, zum Schutz der Damen an Ihrer Seite!» Helmchen Bethke rückte auf Nasenspitzennähe heran. «Herr Ritter, werden Sie mich in meine Werkstatt begleiten?»

Don Quichotte war einen Schritt zurückgewichen. «Ich», stammelte er, «ich bin auf der Suche nach der Edlen Dulzinea von Toboso, die Ihr aber nicht sein könnt …»

«Ach, Gottchen, und warum denn nicht?» 

«Weil … in den Augen meiner Dulzinea schimmert das Blau der schlafenden Veilchen!»

«Nun und, Herr Ritter?» 

«In Euren Augen sehe ich die Röte des dämmernden Tages.» 

«Nicht zu glauben: Ein Dichter! So einer sind Sie also auch, mein Herr Ritter, wie aufregend! Nun, einem Dichter sollte es doch nicht schwerfallen, wie haben Sie es so bezaubernd ausgedrückt? – das Dämmernde meiner Augen in ein schlafendes Blau umzuwünschen, das fällt Ihnen doch nicht schwer! Oder täusche ich mich?»

«Ich … ich könnte es versuchen.»

«Ach, Gottchen, versuchen Sie es, Herr Ritter! Und bitte, begleiten Sie mich! Sie sollen heute mein Modell sein!» Helmchen Bethke lächelte ihr bezwingendes Lächeln. «Keine Widerrede, wenn ich bitten darf!» Sie hakte sich bei Don Quichotte unter und zog ihn mit sich fort. 



Recitado


Und so treibt es einen Ritter

Zu der Schönen in die Werkstatt,

Über beiden lässt die Sonne

Hitzewellen niedergehen,

Dass es in den Ohren brennt,

Wie beim Mittagstanz den Hammeln,

Wenn sie den Verstand verlieren …



Helmchen Bethkes Werkstatt war mit Vogelscheuchen zugestellt. Sie lehnten an den Wänden, lagen auf dem Arbeitstisch und hockten auf Kisten und Stühlen.

«Ich werde Sie mit meinen Männern bekannt machen, Herr Ritter!» sagte Helmchen Bethke beim Eintreten. «Die Herren haben mir alle Modell gestanden, und so habe ich sie in meinen Besitz genommen. Die Namen werden Sie sich auf Anhieb merken, denn sie heißen alle Oskar. Zum Beispiel dieser hier: Oskar Kühlerblech!» Helmchen Bethke deutete auf eine glitzernd ausschwingende Beulenfigur. «Oder sehen Sie hier: Oskar Kettensäge, eine selten geglückte Kreation, finden Sie nicht?» Die Figur schien Helmchen Bethkes Worte mit einem Zahnradzackengrinsen zu unterstreichen. «Na, und Sie, mein Herr Ritter», entschied die Vogelscheuchengestalterin, «Sie werde ich jetzt als Oskar Lanzenblau in Besitz nehmen!» 

Don Quichotte nickte. Eigentlich hatte er widersprechen wollen. Ja, am liebsten, er wusste selbst nicht, warum, hätte er sich heimlich davongestohlen, aber Helmchen Bethke bannte ihn mit ihrem bezwingenden Lächeln, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Er musste sich auf einem Schemel postieren: das Kinn vorgeschoben, den rechten Fuß auf Zehenspitze gestellt, die Lanze in den Wind gehalten.

Helmchen Bethke guckte zu ihm hoch und flötete: «Ich will versuchen, eine Stimmung heraufzubeschwören, verehrter Herr Ritter, die unsere künstlerische Zusammenarbeit intensivieren soll.»

« … intensivieren?»

«Aber ja! Ohne einen – wie soll ich es ausdrücken – Stimmungsanschub werden wir nicht zueinander finden. Sie müssen sich ein wenig von mir verführen lassen, wenn ich aus Ihnen eine vollendete Vogelscheuche machen soll. Und ich weiß natürlich auch schon, wie!» 

Helmchen Bethke eilte zu einem Schrank und nahm eine Tüte heraus. 

«Bitterschokolade!» sagte sie. Ohne ein Stückchen Bitterschokolade würde unser Schöpfungsakt sonst gar nicht in Gang kommen! Nehmen Sie!»

«Schöpfungsakt?»

«Ich möchte Sie jetzt ganz für mich allein besitzen, Herr Ritter! Also schweifen Sie mit Ihren Gedanken nicht ab! Ich benötige Sie willenlos!».



Canción de la loca


Nehmen Sie ein Stückchen Schokolade?

Wollen Sie von mir ein Stückchen Glück?

Finden Sie, mein Hütchen sitzt gerade?

Bin ich, insgesamt gesehn, ein Stück


Allerfeinste Schokoladenschöne,

Zärtlich eingepackt in Tüll und Taft?

Wenn ich Sie auf meine Art verwöhne,

Hätt ich’s dann in Ihrer Welt geschafft?


Soll ich Ihnen mal die Seele zuckern?

Dürfte ich ein bisschen näher treten?

Solln wir im vereinten Herzschlagtuckern

Mal den Staub aus Ihren Augen beten?



Es war still geworden in der Werkstatt. Don Quichotte hatte ein Stück Bitterschokolade im Mund, das ihm langsam auf der Zunge zerfloss – Helmchen Bethke hatte mit der Gestaltung einer neuen Vogelscheuche begonnen. Sie arbeitete lautlos. Don Quichotte stand auf dem Schemel. Guckte. Rührte sich nicht. Durfte sich nicht rühren, Helmchen Bethke hatte es so angeordnet. Ein Ofenrohr hatte sie herangeschleppt, kramte Draht und zusammengerollte Blechstreifen aus einer Schublade, dachte murmelnd über Holzlöffelohren nach, schnappte sich einen Teppichklopfer. Und dann formte sie aus dem Herangeschleppten – Don Quichotte auf dem Schemel stand unvermittelt der Mund offen – formte sie, laut aufschnaufend und den Schleier vor ihrem Gesicht wie eine Gardine wegpustend, eine Ritterfigur. Wuchtete den Teppichklopfer wie eine Lanze der Figur an die Seite und überwölbte ihre Schöpfung am Ende mit einem spitztütigen Lampenschirm!

«Nun, Herr Ritter, was sagen Sie? Sie staunen! Ich sehe es Ihnen an! Allerheftigstes Empfinden habe ich eingearbeitet in meine Kreation, nun, was sagen Sie?» fragte Helmchen Bethke, nachdem das Werk vollendet war. Sie legte ihrer Schöpfung eine Hand auf die Ofenrohrschulter und rief ihr übermütig zu: «Herzlich willkommen im kleinen Kunstsalon von Helmchen Bethke!» 

Don Quichotte sagte kein Wort. Er stand regungslos auf seinem Schemel. Schwieg. Dann begann er zu zittern. Die Lippen zitterten ihm. Langsam, ganz langsam ging er in die Hocke, machte sich klein, langsam ganz klein, er zitterte. Und auf einmal fürchtete er sich. Er starrte auf Helmchen Bethkes Werk. Starrte Helmchen Bethke an. Zuckte unter ihrem bezwingenden Lächeln zusammen, und kein Zweifel, Don Quichotte musste nicht darüber nachdenken, plötzlich erkennt er sich! Sieht sich! Sieht leibhaftig sich selbst in Oskar Lanzenblau gespiegelt! Sieht die Hand, die er sich selbst entgegenstreckt! Hört sich sagen: «Einer von uns beiden bist du!» Und dann kommt er. Kommt … kommt auf sich zugeschritten. Don Quichotte schießt aus der Hocke hoch, will den heranschreitenden Don Quichotte mit den Händen wegstoßen. Ruft ihm entgegen: «Ich bin ich!» Der Heranschreitende kichert, scheint zu kichern, ein verwirrendes Kichern, und mit einem Aufschrei stolpert Don Quichotte vom Schemel herunter, wedelt mit den Armen, als müsse er sich ein Gespenst vom Leibe wedeln und will aus der Werkstatt flüchten.

Aber Don Quichotte stellt sich Don Quichotte in den Weg. 

Dann ist es umgekehrt.

Der eine versucht den andern abzudrängen.

Handgemenge. 

Drohgebärde. 

Ausfallschritt.

Don Quichotte ist stärker als Don Quichotte. 

Umklammert ihn mit den Armen.

Don Quichotte reißt sich los. Taumelt durch die Werkstatt. 

Steht unversehens vor Oskar Kettensäge mit dem Zahnradzackengrinsen. Den holt er vom Sockel. Wuchtet ihn in die Höhe und stürzt sich zusammen mit Oskar Kettensäge auf den kichernd heranstürmenden Don Quichotte. Der ihn wieder umklammern will. Aber Don Quichotte stößt ihn zu Boden. Und dabei bricht Don Quichotte auseinander …

… und Don Quichotte trampelte auf den Bruchstücken herum. «Ich bin ich!» keuchte er, wedelte wieder mit den Armen und rannte aus der Werkstatt. Rannte, so schnell er konnte. Fand den Weg zu den Pferden. Sah von Weitem Sancho Panza. Der wartete mit den Pferden an dem Laternenpfahl. «Sie bringt mich um den Verstand!« rief Don Quichotte dem Stallmeister zu. Der knackte gerade ein Dosenbier auf. 

Don Quichotte war keuchend stehen geblieben. Und schon schwang er sich ohne ein weiteres Wort auf seine Rosinante und preschte wie von einem Rudel Hexen gejagt davon. Hörte Helmchen Bethke mit gurrender Stimme hinter sich, die ihn verfolgte, die ihn einzuholen schien, die ihn allmählich verlor … 

Kopfkratzend trabte Sancho Panza dem Spuk hinterher. Er wollte sich das alles nicht erklären. 


 

Recitado


Blau und riesig aufgezogen

Ist der Himmel, weite Vögel 

Ziehn verschwenderische Schleifen

Um die Türme Barcelonas,

Manchmal hat die Rosinante

Mückenbiester weggewiehert,

Und allmählich kommt der Abend …


 

Sie waren noch ein gutes Stück vorangekommen. Hatten am Nachmittag in einem Wald Kühlung und Ruhe gefunden. Dann brach die Dämmerung herein. Unter einer wuchtigen Eiche schlugen sie ihr Nachtlager auf. Die Pferde wurden versorgt, und Sancho Panza packte Käse, Brot und Bier aus. 

Nach dem Abendessen wollte sich der Stallmeister sofort aufs Ohr legen: Er sei immerhin den lieben langen Tag auf Achse gewesen, gab er zu bedenken. Doch Don Quichotte wollte vorher noch eine Frage loswerden: «Ich denke darüber nach, Freund Sancho, was das ist: dieses Ich.»

«Welches denn?»

«Das Ich, das ich bin.»

«Aha. Ja. Keinen Schimmer, Herr Ritter.»

«Ist dieses Ich etwas Einfaches? Ist es etwas Doppeltes?»

«Tja … doppelt gemoppelt hält besser, sagt meine Alte.»

«Ist es etwas Sichtbares oder eher etwas Ahnbares?»

«Tja, Herr Ritter …» 

«Ohne Zweifel etwas Höheres, was meinst du? Also kann man auch sagen: etwas Inneres, oder? Oder doch eher etwas Äußeres?»

«So viele Probleme um dieses Ich, Herr Ritter …» murmelte der Stallmeister, «ich denk‘ morgen drüber nach …». Und unversehens war er eingeschlafen. 

Nach einer Weile erhob sich Don Quichotte. Wagte sich ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaus. Halb wachend, halb schlafend. Der Mond warf einen Lichtstreifen herunter. Don Quichotte blieb stehen. Guckte auf seinen Schatten. Er stellte ihm eine Frage: «Du da, Schatten-Ich, guckst du mich an?» 

Der Nachtwind strich lautlos zwischen den Bäumen hindurch. 

Don Quichotte fröstelte. 

Auf einmal fürchtete er sich. 

Tapsend ging er zum Lagerplatz zurück und legte sich neben den Stallmeister zum Schlafen hin. Drückte sich eng an ihn.

 


IV


 Recitativo


Und die Morgensonne streichelt

Don Quichotte die Wangen warm,

Neuer Tatendrang umgaukelt

Schon den Ritter. Sancho Panza

Will aufs Frühstück nicht verzichten …


Nach dem Frühstück ritten sie weiter. Es war der dritte Tag ihrer Reise in die große Stadt Barcelona. 

Um die Mittagszeit hörten sie von weither Trommelwirbel. 

Sancho Panza – als sie eine Wegbiegung passiert hatten – sah plötzlich ein Straßenschild auf sich zukommen. Gerade hatte er einen stärkenden Schluck aus seinem Flachmann genommen, da kam dieses Schild auf ihn zu. 

Don Quichotte war schon vorausgeritten. 

Vorausgestürmt. 

Sancho Panza las im Vorbeireiten auf dem Schild: Schloss Burg 1 km. Darunter in kleineren Buchstaben: Köln Deutz 35 km.



Cortina arriba!


In der Ferne wehen Fahnen

Über Zinnen, und die Trommeln

Künden aller Welt die Spiele,

Helden werden ausgerufen,

Und die Herzen schlagen höher

Von den Fräuleins, welche schmachten

Nach den unerschrocknen Kerlen,

Die in Abenteuern glänzen

Und in Betten ganz genauso …



Der Ritter war auf seiner Rosinante schon weit voraus. Hörst du es, Freund Sancho!» rief er über die Schulter zurück: «Ein Fest! Uns zu Ehren wird ein Fest gegeben! Hörst du die Trommeln!»

Der Stallmeister hatte Mühe, hinterherzukommen. 

Wenig später erreichten sie ein hohes Tor, das in einen Burghof führte.

«Des Ritterspieles erster Akt!» tönte es laut über den Platz. Ein Trommelwirbel folgte. Inmitten bunt gekleideter Zuschauer war eine Theaterbühne aufgebaut, der Vorhang hatte sich gehoben, und die Radfahrerin – Don Quichotte erkannte seine Dulzinea sofort – die Radfahrerin war jetzt ein Burgfräulein und kam auf die Bühne getippelt. 

Trommelwirbel. 

Dann kamen sieben Raubritter auf das Fräulein zugelaufen. 

Trommelwirbel. 

Die Raubritter guckten dem Fräulein auf den Burgfräuleinsbusen. Das Fräulein sang den Raubrittern eine Ritterballade.



Balada del caballero


Ich bin die schöne Irminhild,

Ich liebe manchen Ritter,

Son Ritter treibt es auswärts wild,

Zu Haus spielt er die Zither.


Trommelwirbel


Er kündet mir vom Küssen fein,

Und dass ihn Glut entfache,

Ich lass ihn in die Kammer ein,

Wo ich das Bett ihm mache,

Ja, ich das Bett ihm mache …


Die sieben Raubritter hatten sich um das Burgfräulein geschart und rissen ihre Raubritterrüstungen auf. Mit einer Pantomime deuteten sie an, dass, wenn einer von ihnen Zugang zur Burgfräuleinskammer erhalte, er sich dort  etwas einfallen lassen wollte. Das Fräulein sang:


Son Ritter sagt: Er könne, wenn

Er wolle, sich entkräften,

Ich sag, dann soll er wollen, denn

Ich müsst noch zu Geschäften.

 

Trommelwirbel


Die Zither legt er unters Bett,

Sich selbst legt er darinnen,

Und wenn er nicht geschwächelt hätt,

Wär was passiert im Linnen,

Ja, wärs passiert im Linnen …


Die sieben Raubritter hatten ihre Rüstungen wieder zugeklappt. Sie deuteten nun mit einer Pantomime an, dass Verzicht zu leisten, eine Raubrittertugend sei.


Der Ritter greift zur Zither halt

Und singt von süßen Trauben,

Heut hingen sie zu hoch, doch bald

Gedächt er sie zu rauben.


Trommelwirbel


So endet die Geschichte fein

In meinem Bett als Schlappe,

Jetzt sitzt der Rittersmann beim Wein

Und sagt, es wärn die Kräfte sein

Gewesen nicht von Pappe,

Im Bette nicht von Pappe …


Die Leute klatschten. Das Burgfräulein verbeugte sich. Die sieben Raubritter verbeugten sich vor dem Fräulein. Dann stellten sie mit einer Pantomime dar, das Burgfräulein nunmehr rauben zu wollen, denn das sei schließlich ihr Beruf. Das Fräulein ließ einen Schreckensschrei hören, stieß den Ersten zurück, die Leute klatschten, den Zweiten zurück, der fiel aus seiner Rüstung, den Dritten zurück, der sank in eine Ohnmacht und mit ihm dann auch die andern. Die Leute klatschten, das Burgfräulein bedankte sich mit einem Knicks von der Bühne herunter, machte den sieben Raubrittern eine lange Nase, wendete sich dem Publikum zu und hängte ihrer Ballade eine letzte Strophe an.


Sollt irgendwo ein Rittersmann

Sich meiner möcht erbarmen,

Und wenn er mich dann rauben kann,

Fang ich mit ihm die Liebe an

Und sterb in seinen Armen,

Ja, sterb in seinen Armen …


Das Burgfräulein winkte den Leuten zu. Wollte von der Bühne herunter. Da aber stand Don Quichotte neben dem Fräulein. Auf der Rosinante war er vom Tor zur Bühne geprescht. «Dulzinea!» hatte er gebrüllt – die Leute stoben auseinander – Hatte sich aus dem Sattel geschwungen – die Leute johlten – mit einem Satz war er dann auf der Bühne. Packte das Burgfräulein an der Hand und entführte es. Zog es von der Bühne herunter. Zog es über den Burghof. Redete heftig auf die Entführte ein: «O, Dulzinea, meine Schöne, Euer Ritter, kam im rechten Augenblick, nun sollt Ihr es sein auf ewig: die Herrin über seine Gedanken!» 

Das Burgfräulein wehrte sich. Fluchte. Nannte Don Quichotte einen Irren. Schrie. Biss ihm in den Arm. 

In Sekundenschnelle hatten beide den Burghof verlassen. Die Rosinante galoppierte ihnen wiehernd hinterher. 

Trommelwirbel. Das Publikum johlte. 

Und irgendwo weitab von der Burg «soll sich dann dieser tolle Schauspieler», so erzählten es sich später die Leute, «samt Burgfräulein aufs Pferd geschwungen haben und, wie von einer Rakete gejagt, sollen die beiden hinter einer Staubwolke verschwunden sein …»



Recitativo


Und den Ritter scheucht der Wind,

Und er weiß nichts von sich selber,

Und dann liegt er abgeworfen,

Liegt mit Beulen in den Furchen

Eines umgepflügten Ackers,

Weil die Rosinante scheute.

Hart auf einen Stein geschlagen

Ist der Ritter – Irminhild

Hilft ihm auf und klebt ihm eine …



V


Am Abend dieses dritten Tages ihrer Reise in die große Stadt Barcelona hockte Sancho Panza auf einem Stuhl vor der Polizeiwache in Solingen-Ohligs. Er dachte an den Ritter. Den hatte man eingesperrt. Die Polizei war von der Burgtheaterleitung gerufen worden, man hatte den «Verwirrten», wie er amtlich eingestuft worden war, verfolgt, hatte ihn aufgespürt und kurzerhand festgesetzt. Er war der Polizei ins Netz gegangen, als er neben seinem Pferd einen Feldweg entlang trabte. Der Polizei hatte er erklärt, das Fräulein sei längst wieder zu Hause in der Burg, das Fräulein habe sich losgerissen, habe ihn einen Vollidioten genannt, habe sich mit einer Ohrfeige von ihm verabschiedet – und dass er über sich selbst zutiefst erschrocken sei, sagte er. Er habe sich daran erinnert, wie es im Blauen Buch erzählt werde, nämlich: Vom wenigen Schlafen und vielen Lesen war es für den Ritter dazu gekommen, dass sein Gehirn austrocknete, wodurch er den Verstand verlor. Und gerade so sei es nun auch für ihn gekommen. Aber er könne die Polizei beruhigen, denn: Er werde seinen Verstand wiederfinden. Nämlich, indem er mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen sei, habe er doch im gleichen Augenblick zu einer neuen inneren Klarheit gefunden. «Ich entschuldige mich für das Unfassbare, das ich jetzt selbst nicht verstehe!» hatte er hinzugefügt. Der diensthabende Polizeimeister wollte den Namen des Festgenommenen notieren, doch die Angabe: Don Quichotte  ließ er nicht gelten. Mit Fliederstein offenbarte sich dem Polizeimeister dann zögernd ein Höheres Ich, ein Umstand, der wiederum dieses Ich eine Blitzsekunde lang zu einem Fragezeichen erstarren ließ, so, als habe sich dieses Ich gerade eine Erinnerung zurückgerufen, mit der es nichts anzufangen wusste.

Don Quichotte kam in Untersuchungshaft. Die Rosinante wurde in Polizeigewahrsam genommen. 

Sancho Panza war später zur Wache zitiert worden und musste Fragen beantworten und Formulare ausfüllen. Mit der Pferdemetzgersfrau in Steinelbömm wurde telefoniert. 

Und nun saß also der Stallmeister vor der Polizeiwache in Solingen-Ohligs und wartete auf ein Wunder. 

Das Wunder ließ nicht lange auf sich warten. 

Der Theaterdirektor persönlich in Begleitung des geraubten Burgfräuleins wurde beim Polizeichef der Wache Solingen-Ohligs vorstellig: Es handele sich um ein höchst bedauerliches Missverständnis, gab der Direktor zu Protokoll, der Eingesperrte gehöre nämlich zur Burgschauspielertruppe. Zwar habe er in seiner Rolle als Raubritter maßlos übertrieben, das passiere bei hochkarätigen Schauspielern leider immer häufiger, aber es sei ja Gottseidank niemand zu Schaden gekommen. Das Burgfräulein flötete: «Kein Schaden, kein gar nix.» – Außerdem, setzte der Direktor hinzu, das Publikum habe sich köstlich unterhalten, was bei der gegenwärtigen Krise der Theater doch ein Segen sei. Die Performance des Kollegen Entführerdarsteller – so drückte es der Theaterdirektor aus – sei als eine Glanzleistung des Reality-Theaters anzusehen. Und wenn der Kollege bei seiner Vernehmung auch eine Menge Unverständliches geredet habe, so erkläre es sich dergestalt, dass ein Schauspieler eben nicht auf Befehl aus seiner Rolle herauskomme, wenn er sich erst einmal in sie hineinverbissen habe. Das Herauskommen sei ein schleichender Prozess. Außerdem: Das famose Spektakel sei für künftige Aufführungen doch geradezu kassenschlagerverdächtig, erklärte der Direktor. Ja, es gebe bereits Kartenvorbestellungen für die nächsten Wochen. Um nicht zu sagen: Monate. Selbstverständlich werde man seitens der Theaterleitung die brilliante Entführungsakrobatik des hitzigen Kollegen zu entschärfen bestrebt sein – die gesamte Aufführung habe man bereits für die Ruhrfestspiele Recklinghausen nachnominiert! Und man bitte daher im Namen der Kunst um die Freilassung des zu Unrecht eingesperrten Charakterdarstellers. Don Quichotte wurde freigelassen. 

Als er aus der Tür der Polizeiwache Solingen-Ohligs trat, erhob sich Sancho Panza von seinem Stuhl, breitete die Arme aus und drückte den Ritter an seine breite Stallmeisterbrust. «Die Pferde bleiben hier», sagte Sancho, «meine Alte hat es telefonisch so angeordnet. Sie will die Viecher irgendwann abholen lassen.» Dann wurden der Ritter und sein Stallmeister mit dem Polizeiauto zur Burgbühne gefahren.

Die Theatertruppe empfing die beiden mit großem Hallo, und Don Quichotte bekam sofort einen Gastspielvertrag angeboten. Sancho Panza wurde der Posten des zweiten Inspizienten übertragen mit alleiniger Verantwortung für den soeben verpflichteten Raubritterdarsteller. Das gesamte Ensemble freute sich auf ausverkaufte Vorstellungen mit den neuen Kollegen …

… aber spät in der Nacht, nachdem sich in der Burg alle schlafen gelegt hatten, stahlen sich Don Quichotte und Sancho Panza leise und unbemerkt davon. «Sie wollen mich in ein neues Ich hineindrängen!» hatte Don Quichotte dem Stallmeister flüsternd erklärt. Und kopfschüttelnd hinzugefügt: «Schauspieler! Gar nicht auszudenken, was das in meinem Innern anrichten könnte! Da wäre ich den Verstand, den ich mir gerade zurückerobert habe, doch sofort wieder los!»

Irgendwo wollten sie sich dann einen Schlafplatz suchen. Und beiden knurrte der Magen. Aber Solingen-Ohligs war schon zur Ruhe gegangen.



Recitado


Stehn in Ohligs harte Bänke,

Hat MacDonalds schon geschlossen,

Auch der Schnaps im Flachmann ging

Längst zur Neige. Nur der Mond

Leuchtet kalt und alt vom Himmel

Runter auf die beiden Schläfer,

Fällt der eine von der Bank,

Rutscht der andre hinterher …



Um fünf Uhr morgens saßen Don Quichotte und Sancho Panza in einem vollbesetzten Abteil der S-Bahn Solingen/Köln-Hauptbahnhof. Auf der Fahrt nach Köln grübelte Don Quichotte vor sich hin. Er dachte über eine Zukunft als sesshafter Ritter nach … mit einem kleinen Geschäft für Erinnerungsstücke aus alten Raubritterzeiten. Aber eine plötzliche Unruhe überkam ihn, als er sich ins Gedächtnis rief, dass er seine Dulzinea ja noch immer nicht gefunden hatte. 

Auch Sancho Panza war ins Grübeln geraten. Er fragte sich, ob er weiterhin noch als Stallmeister tätig sein wollte oder besser zurück in die Pferdemetzgerei ging. Die Antwort lag nahe: In seinem ganzen Pferdemetzgerleben hatte er sich niemals so frei gefühlt, wie in den vergangenen Tagen. Stallmeister, das schien ihm geradezu ein Traumberuf zu sein. Trotzdem – und dieser Gedanke erschreckte ihn – trotzdem hatte er auf seinem Stuhl vor der Polizeiwache Solingen-Ohligs auch ein ums andere Mal an seine Alte im fernen Steinelbömm gedacht. Und ob allzu viel Freiheit ihm auf Dauer womöglich gar nicht bekommen könnte, hatte er sich dann gefragt. Ja, er war, zu seiner eigenen Verwunderung, schließlich zu der Erkenntnis gelangt: Von der Freiheit habe er in den vergangenen Tagen in Überfülle geschmeckt, und eine gute Portion Ehekrach und der eine oder andere Tritt in den Hintern könnten jetzt eine geradezu willkommene Abwechslung sein.

In Köln Hauptbahnhof stiegen sie aus. Am frühen Morgen drängten sich hier unzählige Menschen. Sancho Panza besorgte an einem Schnellimbiss heiße Mettwurst mit Brötchen. Dann gingen der Ritter und sein Stallmeister durch die Bahnhofshalle. Niemand sah sich nach ihnen um. Nur ein Kind an der Hand seiner Mutter. Es quiekte. Deutete auf den Schirm, den sich Don Quichotte unter den Arm geklemmt hatte, und rief: «Opa hat Regen!» 

Warmer Morgenwind blies ihnen auf dem Bahnhofsvorplatz in die Gesichter. 

Sie gingen Leuten hinterher, stiegen Treppen hinauf …

… und nach einer Weile standen sie vor einer riesengroßen Windmühle, Don Quichotte hatte sie entdeckt.

«Tja», gab Sancho Panza zu bedenken, «das ist aber gar keine Windmühle, das ist der Dom. Allerdings …», Sancho Panza dachte einen Moment lang nach, sah Don Quichotte prüfend von der Seite her an und fuhr dann fort: «Wenn man der Stallmeister eines Ritters ist und genauer hinguckt, dann ist das hier womöglich doch so etwas wie eine Windmühle!»

Don Quichotte nickte heftig. «Eine wirkliche Windmühle!»

«Ja, ja. Ein Ritter sieht so was auf den ersten Blick, ist schon klar.» Und in Gedanken setzte der Stallmeister hinzu: Es geht wieder los! Wenn er jetzt wieder damit anfängt, mach ich die Fliege.

Eine Straßenmalerin hatte sich in der Nähe niedergelassen. Sie malte den Dom auf die Pflastersteine. Niemand interessierte sich für ihre Malerei. Leute wimmelten um sie herum und liefen weiter. Don Quichotte schaute zu ihr hinüber, und einen Augenblick später kniete er sich neben die Malerin aufs Straßenpflaster. Hatte sich ein Stück blaue Kreide aus der Malerschachtel genommen und fing an, den Dom auf den Pflastersteinen mit riesigen blauen Windmühlenflügeln zu versehen. 

Die Straßenmalerin guckte ihm eine Weile dabei zu, kniff die Augen zusammen und sagte dann: «Haste recht, Kollege, warum soll der Dom keine Windmühle sein!» Die Straßenmalerin nickte anerkennend. «Bist du Künstler?»

«Wenn Ihr es wünscht, meine Schöne!»

«Kannst Marita zu mir sagen. Und du?»

«Könnte ich auch Dulzinea sagen?»

«Klar. Und du? Wie heißt du?»

«Don Quichotte.»

«Stark. Woher kommst du?»

Don Quichotte legte das Kreidestück zurück in die Schachtel. Er stand auf. Nahm den Schirm, den er auf das Pflaster gelegt hatte, zielte mit dem Schirm hinter sich in den Morgenhimmel und … er wollte es nicht hinaustrompeten, aber es passierte: «Aus Argamasilla de Alba!»

Vorüberlaufende guckten sich aufgeschreckt um. Liefen weiter. 

«Kollege, du bist wirklich ein Künstler, das seh ich schon ganz klar! Wir könnten uns zusammentun!»

«Na, und ich», mischte Sancho Panza sich ein, «ich mach mich jetzt, wenn Ihr gestattet, Herr Ritter, auf die Socken. Zurück zu meiner Alten. Weil: Drei Tage Stallmeister, das reicht. Außerdem: In meinem Flachmann ist Ebbe, ich bin stocknüchtern, und das ist ein unhaltbarer Zustand. Ja, und jetzt auch noch eine wirkliche Dulzinea im Schlepptau, das verkrafte ich nicht. Bitteschön, Euer Geldbeutel, noch ziemlich gut gefüllt, Ihr könnt Eure Schöne zum Frühstück einladen, mich ziehts Richtung Steinelbömm, das Fahrgeld hab‘ ich mir rausgenommen.» 

Der Pferdemetzger Hajo Gummflitscher verabschiedete sich mit einem herzlichen Grinsen und einer sehr tiefen Verbeugung. Auf einmal hatte er es eilig. Don Quichotte übergab ihm die  Schlüssel zu seinem Haus – Freund Sancho könne das Anwesen, wann immer er es für nötig erachte, als Zufluchtsstätte nutzen, erklärte ihm der Ritter. Dann machte sich Hajo Gummflitscher auf den Weg zurück zum Hauptbahnhof Köln, Bahnsteig 11. 

Don Quichotte schaute ihm nach … 

… aber in Gedanken ging er schon in der großen Stadt Barcelona spazieren. Dulzinea begleitete ihn und sang ihm das Lied von den Türmen und Tagen und Nächten. 



Canción de Barcelona

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Sonntags sind in Barcelona

Blau der Himmel, blau die Steine,

Don Quichotte auf blauer Wolke,

Streift die Türme Barcelonas,

 Wirft den blauen Mädchen Küsse,

Blaue Küsse zu und freut sich.

Auf den Straßen tragen Ritter

Abenteuerblaue Hüte.


Und es setzt die Wolke sanft auf in Barcelona 

Und es setzt die Wolke sanft auf in Barcelona  


Wandelt sich in Barcelona

Hoch der Dom in eine Mühle,

Don Quichotte, er dreht nach Kräften

An den Flügeln, dass sie knarren,

Manchmal liegt er auf dem Pflaster

Vor der Mühle, und er träumt,

Füllt den Tag mit blauen Träumen

Und die Nächte sowieso …


Und es setzt die Wolke sanft auf in Barcelona 

Und es setzt die Wolke sanft auf in Barcelona   …



VI


Sie standen vor dem Haus, in dem Dulzinea wohnte. Die Eingangstür klemmte. Im Treppenhaus roch es nach Knoblauch. Über eine Holztreppe gelangten sie in den dritten Stock, und Dulzinea drückte die Wohnungstür auf, die nur angelehnt war. Don Quichotte … er zögerte einen Moment, ehe er eintrat … guckte sich an der staubgrauen Tapete fest, die im Flur und weiter drinnen hier und da von den Wänden herunterklaffte. 

Dann war plötzlich ein Schrei zu hören … Don Quichotte blieb stehen … Ein … ein Papageienschrei? «Trink doch eene mit!» schrie der Papagei noch einmal. 

«Dat isset Mienchen!» erklärte die schöne Dulzinea. «Wirste dich dran jewöhnen, die schreit immer. Guck: Unser Wohnzimmer! Haste Hunger, mir hätten Spiegeleier.»

Bei Sonnenuntergang hockte Don Quichotte auf dem Fußboden seines Wohngemachs im Palast der großen Stadt Barcelona. Dulzinea schenkte Rotwein ein. Der Papagei knackte Nüsse. Und Don Quichotte las aus dem Blauen Buch vor. 

Als später die Glocken vom Windmühlendom herüber Mitternacht läuteten, lösten sich unhörbar und langsam die staubgrauen Tapeten von den Zimmerwänden und flatterten durch die Fenster davon. Die Räume des Palastes waren nun in flirrendem Blaugold ausgeschlagen und spiegelten das Sternenlicht wider, warfen es auf die schöne Dulzinea von Toboso und den erfindungsreichen Ritter Don Quichotte von der Mancha. 

Mit dem letzten Glockenton war Don Quichotte aufgestanden. Hatte das Blaue Buch beiseitegelegt. Langsam drehte er sich nun um sich selbst. Und mit ihm drehte sich der Palast, ruckelte sich aus den Fundamenten frei und hob lautlos vom Erdboden ab. Schwenkte in die elliptische Flugbahn ein und rauschte in die Wolken hinauf. Steil aufwärts ging es und dann wieder ein kurzes Stück im Bogen retour und schon wieder nach oben. Dem davonfliegenden Palast hinterher folgte ein Begleitzug aufgeregter Nachtvögel, und der berühmte Ritterchor der großen Stadt Barcelona stimmte in den nächtlichen Straßen ein jubelndes Madrigal an. 

Hoch oben setzte der Palast im Dunst einer Wolke auf und machte in den zusammenfließenden Fundamenten fest. Don Quichotte reichte der schönen Dulzinea von Toboso seinen Arm. Gemeinsam schritten sie durch die Palasttür auf die Wolke hinaus. Unter sich sahen sie nachtgolden bemalt die ganze Welt, nicht größer als eine spanische Stachelbeere. Don Quichotte pflückte die Beere und legte sie der schönen Dulzinea zu Füßen. Die versteckte sie sofort in ihrem Schmuckkästchen und schenkte noch einmal Wein nach.

Vor dem Schlafengehen sprach Don Quichotte von der Zukunft. «Ich werde das Blaue Buch zu Ende schreiben», sagte er.

Dulzinea drückte sich an ihn. «Du schaffst dat!»

«Ich könnte mir eine Brille ausdenken, die mich unvorstellbar große Abenteuer sehen lässt. Abenteuer, die sich in meinem Innen-Ich verbergen. Weil: Den Abenteuern da draußen gehe ich künftig aus dem Weg. Die sind nicht für mich gemacht. Ich bin ein Ritter der inneren Abenteuer.» 

Dann gingen sie schlafen. Im Palast stimmte ‘et Mienchen ein Nachtlied an. 


 

Balada de la noche


Don Quichotte erdenkt sich eine Brille,

Die kopfeinwärts auch zu nutzen ist,

Und so blickt bebrillt er in die Stille

Seines Wesens durch Erfinderlist.


Und schon sieht er sich in sich verdoppelt,

Weil ein Innen-Ich ihn da begrüßt,

Das vom Außen-Ich sich abgekoppelt

Hat und ganz autark die Seele süßt.


Wenn er könnte, würde er zusammen-

wünschen wollen Ich und Ich,

Würde Innen sich ins Außen rammen

Lassen sollen so zum Ich an sich,


Das vielleicht entstehen können könnte …

Doch es fügt sich nicht nach seinem Willen.

Auch vermittels neu erdachter Brillen

Glückt es nicht, den Wunsch vom Ich an sich zu stillen.


Und so nimmt er’s hin und bleibt gespalten,

Hoffend, sich als Ich im Ich stabil zu halten.



E   N   D   E