+ Weit übers Meer und dann links – fünzig Jahre später


Swingspiel für einen Schauspieler und eine Schauspielerin

(Texte und Gesang Peter Welk – Kompositionen und Begleitung Georg Corman)



Darf ich mich zu Ihnen setzen?»

Roxane schaute nicht auf. Sie tippte eine SMS in ihr Handy. «Bitte!» murmelte sie. 

Im Schribsdorfer Gartenrestaurant drängten an diesem maiwarmen Sonntagmorgen die Leute zu den Plätzen, einige Stühle waren noch unbesetzt – na, und wenn er sich ausgerechnet zu mir hocken will, dachte Roxane und tippte, dann meinetwegen. Ein Mensch in verknittertem Hemd und Schlapphut war an ihrem Tisch stehen geblieben. Aus den Augenwinkeln hatte sie ihn im Blick. Er schien nervös zu sein. Unrasiert war er, stellte Roxane fest, als sie zu ihm hochblinzelte. Und da hatte er sich auch schon gesetzt. Rieb sich mit den Handrücken die Augen aus. Guckte sich unruhig um. Roxane tippte weiter in ihr Handy. Eine Nachricht an ihre beste Freundin: «Du, es hat dreizehn geschlagen! Ich habe den Blonden von der Kreissparkasse abserviert, was sagst du? War mir zu anstrengend. Nur das Geld anderer Leute im Kopf. Bin ab heute wieder solo. Stand heute Morgen vorm Bahnhofseingang, wollte mich in einen Zug setzen und irgendwo ankommen. Hab ich dann verschoben. Mir ist nach Weltuntergang zumute. Lach nicht!» – Sie schickte die SMS ab.

Die Vormittagssonne streifte Roxane über den neu gekauften Hosenanzug. Es duftete rundum nach Kaffee und frischen Brötchen. Ein Dackel bellte zum Himmel hoch – Roxane fühlte sich hundeelend. Aber kein Mensch, verdammtnochmal, und schon gar nicht ein unrasierter Schlapphut hatte sich da einzumischen!

«Ich möchte Sie bitten», sagte der Schlapphut mit leicht zitternder Stimme, nachdem er Roxane eine Weile gemustert hatte, «ich möchte Sie bitten, für eine oder auch zwei Stunden meine Geliebte zu sein, lässt sich das machen?»

Roxane betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, den sie aus ihrer Handtasche gefischt hatte. Wie bitte? Hatte sie sich da verhört?

«Selbstverständlich nur zum Schein», fuhr der Schlapphut stockend fort. «Und nur für eine Stunde oder höchstens zwei. Meine heimliche Geliebte, sozusagen. Könnten Sie das für mich einrichten?»

Roxane überlegte, ob sie sich die Lippen nachziehen sollte. Vielleicht kam ja von irgendwoher an diesem Morgen auch ein Adonis an ihren Tisch.

«Das würde mir in meiner Situation nämlich weiterhelfen …», hörte sie den Schlapphut sagen. «Für die kommenden Tage habe ich ohnehin eine andere Lösung in petto.» Er atmete heftig. «Wenn Sie mir schnellstmöglich eine Antwort geben könnten!» bat er. «Es ist dringend!»

«Überlegs mir …», murmelte Roxane ohne aufzuschauen. Ein durchgeknallter Oldie, dachte sie. Vielleicht hatte sie Glück: Wenn sie ohne großes Palaver sein Gebrabbel über sich ergehen ließ, hatte sie womöglich schnell wieder ihre Ruhe. Den Tisch konnte sie immer noch wechseln, wenn er zudringlich wurde.

«Ihre Bestellung, bitteschön: einmal Milchkaffee im Glas mit Biskuitschnitte!» flötete in diesem Augenblick die Kellnerin, die an den Tisch getreten war. «Und der Herr, bitteschön?»

«Ein Wasser.» 

«Mit oder ohne?» 

«Bloß keinen Alkohol am frühen Morgen, wollen Sie mich umbringen! Das können Sie getrost den andern überlassen.»

«Also dann ein stilles, der Herr, kommt sofort.» Die Kellnerin rauschte davon – und rauschte mit der Bestellung auch gleich wieder zurück an den Tisch. «Ein stilles Wasser, bitteschön. Und auch etwas für den Magen, der Herr? Wir hätten Rührei mit Lachsröllchen auf der Tafel.»

«Sie stören!»

«Dann vielleicht später eine Semmel von vorgestern, der Herr!» maulte die Kellnerin. Mit einem knappen Aufschnauben trabte sie davon.

Roxane blinzelte verstohlen über den Tisch. Der Schlapphut schien nervös zu sein. Er knibbelte an seinen Fingernägeln, guckte ein ums andere Mal zur Tür hin, die vom Garten in den Restaurantsraum führte, und dort – Roxane fiel er jetzt auf – dort an der Tür stand ein Mensch, der auch an den Fingernägeln knibbelte. Und lauerte. Zu ihrem Tisch herüberlauerte. 

«Mein Sohn Moritz!» erklärte der Schlapphut, der Roxanes Blick gefolgt war. «Lässt mich nicht aus den Augen. Weil: Er hält mich für verrückt. Er und seine ganze Sippe. Halten mich alle für verrückt.»

«Werden ihre Gründe haben», murmelte Roxane. Der Schlapphut musste es gehört haben. Und? Roxane sah auf … er blieb sitzen … redete weiter …

«Schauen Sie sich um: Da hocken sie.» Er zirkelte mit dem Zeigefinger einen Halbkreis. «Sind mir hierher gefolgt. Haben sich unter die Leute gemischt, damit sie mich im Blick haben. Lauter liebenswerte Menschen, denen ich nicht entkommen soll.»

Roxane zog hörbar die Nase hoch – so hatte sie sich den Sonntagmorgen nicht vorgestellt. 

«Dort hinten das Kalkgesicht mit dem Obsttellerhütchen: meine Schwiegertochter Marlene. Hält mich für eine verirrte Seele, die gerettet werden muss. Was sagen Sie! Und dort die ausgefranste Rothaarige, sehen Sie, wie es aus ihren Knopfaugen zu uns herüberblitzt? – meine geschiedene Frau Tita. Eine Schlange! Seit der Scheidung sieht sie in mir nur noch das Kaninchen, das es zu verschlingen gilt.»

Roxane nickte knapp. Wie werde ich den los?   

«Und achten Sie auch auf den da drüben am Tisch unter der Birke, der mit dem Bierschaum auf der Oberlippe! Sehen Sie ihn? Sieht aus wie ein Gartenzwerg beim Zähneputzen, finden Sie nicht?» Der Schlapphut kicherte. 

Roxane – sie versuchte es aufzuhalten – kicherte auch.

«Das ist Enzo Cartelli, mein Manager!»

Warum hörte sie sich das an? Sollte sie den Geschäftsführer rufen?

 «Schauen Sie sich um, meine Schöne! Lauter reizende Leute, nicht wahr?» Der Schlapphut verzog das Gesicht. «Sie haben mich eingekreist! Wollen mich nicht aus ihren Krallen lassen! Haben sich in den Gedanken verrannt, ich sei einer der ihren. Unwiderruflich. Einer, der für alle Ewigkeit mit ihnen verbandelt ist.» Und beißend kam es hinterher: «Bin ich das denn?» 

Roxane zuckte mit den Schultern. Was war heute mit ihr los? Warum wehrte sie sich nicht? Der Schlapphut … musste sie sich das überhaupt gefallen lassen? Er redete … 

«Das ist nämlich hier die Frage, meine Schöne: Wer bin ich? Diese Frage beschäftigt mich. Nicht erst seit heute, das können Sie mir glauben.» Er stützte die Arme auf die Tischkante, legte das Kinn in die Hände und fing an zu brummen. Leute an den Nachbartischen hoben die Köpfe. «Ein Sonntagmorgenliedchen gefällig?» fragte der Schlapphut. Roxane schüttelte hilflos guckend den Kopf. Er nahm es als Aufforderung und begann leise zu trällern.


Mensch bin ich irgendwie seit achtzig Jahren,

Ich bin kein Held und auch kein abgedrehter Typ,

Ich bin der Hans im kleinen Glück,

Und guck ich auf mich selbst zurück,

Möcht ich aus allen meinen Häuten fahren!


Er hielt inne. Nickte unauffällig grinsend zu den Nachbartischen hinüber. «Wenn Sie mich nach meinem Beruf fragen, meine Schöne: Ich bin Sänger. Ich singe alles. Straßenlieder, Schlager, Liebeslustlieder, was Sie wollen.» Er trällerte wieder los.


Nachts manchmal kann ich irgendwas erahnen,

Dann kann ich allerkleinster König sein,

Und Träume schick ich auf die Sternenbahnen

Vom Zipfelglück der Kinder und Bramahnen,

Mit hunderttausend Fragen schlaf ich ein …


«Aha …!» Der Schlapphut hatte unvermittelt aufgehört zu trällern. Kniff die Augen zusammen. «Die Herrschaften gehen zum Angriff über, aha!» 

Roxane hob den Blick. Dieser Manager, der aussehen sollte wie ein zähneputzender Gartenzwerg, der war gerade von seinem Platz aufgestanden. Er öffnete einen kleinen Koffer, den er vor sich auf den Tisch gestellt hatte, nahm ein Kabel heraus, schraubte ein Stativ zusammen und klemmte … ja, was? … ein Mikrofon daran fest … so deutete Roxane das Geschehen. Dann packte er sich alles unter den Arm und ging damit langsam – auffallend langsam und unverhohlen zu ihrem Tisch herüberlauernd – zu diesem Moritz an der Tür. Sie wechselten ein paar Worte, die Roxane nicht verstehen konnte, und schließlich bauten sie neben der Tür eine Mikrofonanlage auf.

«Sie wollen mich stoppen!» kommentierte der Schlapphut leise knurrend die Vorgänge. «Sie wollen mich festnageln! Aber das wird ihnen nicht gelingen! Ihre Rechnung wird nicht aufgehen!» Er kicherte wieder. «Gestern Abend, Sie werden es nicht für möglich halten, meine Schöne, gestern Abend hat mich das Publikum ausgepfiffen! Eine ganz neue Erfahrung für mich. Ich habe gelitten, kann ich Ihnen sagen. Ausgepfiffen!»

Roxane hatte nach ihrem Taschentuch gekramt, tupfte sich die Stirn ab, ohne zu begreifen, warum sie es tat.  

«Aber glauben Sie mir», fuhr der Schlapphut fort, «wenn ich mir jetzt einen Ruck geben würde, zum Mikrofon ginge und den Leuten hier im Garten eines meiner eierkuchenseligen Lieder zum Besten gäbe, jede Wette, die Leute würden mir zuklatschen, wie sie es immer tun, und das ginge mir dann wie Butter durch die Seele. Ich hätte plötzlich wieder das Gefühl: Hier werde ich geliebt, hier bleibe ich, hier bin ich wieder der Hans im kleinen Glück! Damit rechnen nämlich diese reizenden Herrschaften dort an der Tür und an den Tischen, verstehen Sie?»

Roxane verstand kein Wort. Wollte nichts verstehen. Knüllte ihr Taschentuch zu einem Knäuel. Überlegte, ob sie es auf den Dackel werfen sollte, der an einem Nebentisch gerade wieder gebellt hatte. Von überallher ging man ihr heute auf die Nerven … 

«Ach, Gott, ja, dass ich es vergessen konnte!» hörte sie den Schlapphut sagen: «Wenn ich mich Ihnen vorstellen darf, meine Schöne!» Er stand vom Stuhl auf und nahm den Hut vom Kopf: «Adrian Mielnickel, Sänger. Seit Ewigkeiten Sänger und auf Achse!»

«Kann man mich nicht einfach in Ruhe lassen?» … Roxane fing an, mit sich selbst zu reden. Den Schlapphut hielt das nicht auf … 

«Um mich herum, meine Schöne, ob ich es will oder nicht, ist immer Musik, nicht wahr! Ich habe Harmonien zu allen Lebenslagen im Angebot, was sagen Sie! Sänger in der Swingband The Flying Shadows – schon von ihnen gehört? Eine Provinztruppe, die es nie auf die große Bühne geschafft hat. Sänger. Bis gestern Abend jedenfalls. Wir gaben ein Konzert in … in Hülsenhops oder so ähnlich …»

«Hülsenhohe!» korrigierte Roxane. Es war ihr herausgerutscht. Unabsichtlich. Sie ärgerte sich. «Was geht es mich an, wo Sie gestern Abend …» – der Schlapphut fiel ihr ins Wort: «Hülsenhohe oder Hülsenhops, weiß der Teufel!»

«Warum erzählen Sie mir das? Allmählich …»

«Ich habe mich in meinem Leben in so vielen Hülsendingsdas herumgetrieben, da merkt man sich keine Namen mehr. Das Publikum gestern Abend … anfangs haben die Leute gejubelt, dann haben sie mich ausgepfiffen. Meine Schuld, keine Frage, ich hatte plötzlich aufgehört zu singen. Ohne Vorwarnung. Können Sie sich das vorstellen?»

Ich will mir überhaupt nichts vorstellen … erwiderte Roxane … wollte es erwidern, wollte das Gespräch jetzt abbrechen, wollte aufstehen … und der Schlapphut lachte. Lachte unversehens los. Leise. «Ich stand auf der Bühne, guckte nach unten ins Publikum, gerade war ich zu der Stelle gekommen, wo es in meinem Lied heißt: Im Durchschnitt liegt das Glück der Welt … und da passierte es! Auf einmal brachte ich keinen Ton mehr heraus. Zu meiner eigenen Überraschung. Es muss dem Publikum so vorgekommen sein, als habe sich der Sänger Adrian Mielnickel in einem Augenblick höherer Fügung … wie soll ich es ausdrücken? … in die Bestandteile seiner Durchschnittlichkeit aufgelöst, haha!»

Roxane zog unauffällig ihre Geldbörse aus der Handtasche … sah sich nach der Kellnerin um …

«Klingt pathetisch, aber so wars, meine Schöne. Kein Wunder, dass die Leute mich ausgepfiffen haben. Aber das alles schert mich doch heute nur noch einen dicken Käse, nicht wahr! Denn von heute an ist mit alledem Schluss! Heute ist mein Geburtstag: Ich werde achtzig! Von heute an bin ich nicht mehr der abgetakelte Sänger irgendwelcher Flying Shadows und erst recht nicht mehr das fossile Oberhaupt einer liebenswerten Familie, weil: Ich steige aus! Ende und Finito mit dem Trallala! Weil … interessiert Sie das überhaupt, meine Schöne?»

«Ja …» – Roxane hatte nein sagen wollen, mit einem entschiedenen Nein hätte sie den Kerl loswerden können, aber da war ihr ein Ja herausgerutscht, warum? Und der Kerl redete weiter … seine Stimme? Bariton …  sie kannte einen Bariton aus dem Liederkreis der Volkshochschule mit einer Stimme wie ein Blecheimer … war sie jetzt auch verrückt geworden? Roxane dachte an die Pistole, die sie von einem Onkel geerbt hatte … allerdings, die müsste vorher geschmiert werden …  

«Die Fee, auf die ich heimlich immer gehofft habe, meine Schöne, heute Morgen, in meinem ganz und gar abenteuerlichen Geburtstagstraum vor dem Aufwachen – plötzlich saß die Fee mir auf dem Schoß, und sie flüsterte mir zu: Du machst dich augenblicklich auf die Socken, Adrian Mielnickel So drückte sie es aus.»

Grüne Socken trug er … Roxane hatte unter den Tisch geblinzelt, gegen ihren Willen …

«Es ist Ihnen anzusehen, meine Schöne, Sie haben sich gerade auf die Seite der Fee geschlagen!»

Ich könnte ihn erschießen …

 «Aber, hielt ich dagegen», der Schlapphut machte ein nachdenkliches Gesicht, «ich kann doch die Familie nicht zurücklassen! Sie spekulieren doch alle auf meinen Erfolg, so haben sie es immer gemacht, ich versorge sie, und dafür lieben sie mich!»

«Ihre … diese Fee … es geht mich gar nichts an, was Ihnen da in den Schoß gefallen ist … sie hat … was hat sie gesagt? Ich will das alles überhaupt nicht wissen …»

«Sie nehmen dir die Luft, Adrian Mielnickel, das hat sie gesagt.» Er nahm hastig einen Schluck Wasser. «Da hatte ichs begriffen, meine Schöne! Dass ich es machen musste! Dass ich mich von keinen Zweifeln mehr bremsen lassen durfte. Und die Herrschaften – alle, wie sie da jetzt so unauffällig harmlos herumsitzen und zu uns herüberlauern»  – er senkte die Stimme – «geahnt haben sie es vielleicht auch schon gestern Abend, seit heute Morgen aber wissen sie es genau. Ich habe es ihnen mitgeteilt. Zettelbotschaft am Sonntagmorgen unter der Tür hindurch an alle: Meine Lieben, von heute an werde ich – ich, der gute alte Adrian Mielnickel, an dem ihr euch geschlagene achtzig Jahre in schnorrender Mitmenschlichkeit abgearbeitet habt – von heute an werde ich ein Vogel sein!» Er holte tief Luft. Dann hielt er die Hände wie eine Tüte vor den Mund und fing wieder an zu singen. Leise über den Tisch. 


Ich wollt, ich wär ein Häher, 

Ich käm den Wolken näher, 

Noch kann ich nicht ins Weite ziehn, 

Ich bin ein Pinguin!


«Noch! Noch, meine Schöne, fühle ich mich so tapsig wie ein Pinguin, ja! Aber das wird sich ändern. Hören sie mir überhaupt zu?»

Roxane hatte zugehört. Hatte sich dagegen gesträubt … fühlte die Verzweiflung, die in ihr hochkam, wie würde sie den Kerl jemals wieder los … sie hatte zugehört … dieser … dieser Adrian Mielnickel … sein Gesicht … in der Morgensonne sah es aus wie ein Stück zerknautschtes Packpapier … und ja, auf den ersten Blick war er ein grässlicher Kerl … auf den zweiten Blick erst recht … aber! Roxane konnte es sich nicht erklären: Er machte sie auf einmal neugierig, oder? Ach, was, neugierig … er nutzte ihre Stimmung aus! Es war ihr ja aus dem Gesicht zu lesen, dass sie mit ihren Gefühlen im Keller hing. War aus einer Beziehung raus, die ihr gut getan hatte … mit 32 wieder allein im piekfeinen Schwebe-Doppelbett, das der Verflossene ausgesucht hatte … und da mischt sich dieses Packpapiergesicht in meine Angelegenheiten … sie schaute zu ihm hoch … beugte sich näher zu ihm hin und entdeckte, dass er zwei unterschiedlich geweitete Nasenlöcher hatte … 

«Ich weiß, was Sie gerade denken, meine Schöne: Einer, der aussieht, als sei er auf dem Müllplatz zu Hause, aus dem wird allenfalls eine Schmuddelkrähe, aber kein bunter Vogel. Lachen Sie nicht! Würde Ihnen Schmuddelschwan besser gefallen?» Er fing wieder an zu trällern. Gar nicht mehr leise. An den umliegenden Tischen hörte man amüsiert zu. 


Ich wollt, ich wär ein Schwan, 

Ich zöge dich im Kahn, 

Bei Meter fünfzig sagt ich hepp! 

Und nähm dich hoch im Schlepp! 


Er schüttelte den Kopf. «Entschuldigen Sie, das Liedchen war nicht auf Sie gemünzt. Nichts als das Gelegenheitsgedudel eines heruntergekommenen Sängers. Der die ganze Nacht über kaum geschlafen hat. Der jetzt ein wenig überdreht vor Ihnen sitzt und ein paar schräge Töne spuckt.»

Roxane gab auf. Wollte aufgeben. Sie war diesem Menschen ausgeliefert. Ein heruntergekommener Sänger … was hatte er gesagt? Auf der Suche nach einer Geliebten oder so …? Warum auch nicht? Mit 32 findet man halt nicht mehr das Passende … die Ansprüch runterschrauben …

«Können Sie sich vorstellen», fing er wieder an, «ich habe mich eine Nacht lang im Bett herumgewälzt. Im Gedankenschnellzug bin ich durch die achtzig Jahre meines Lebens gesaust, und es war eine ziemlich enttäuschende Reise. Bis der Schaffner heute Morgen – Endstation! – hat er gerufen. Alles aussteigen, rief er. Und auf einmal wusste ich es: Ich war mein Leben lang immer nur im Kreis herum gefahren. Also stieg ich aus, und ich redete mit mir selbst: Adrian Mielnickel, sagte ich, entweder, du gehst jetzt zu Fuß weiter wie bisher und steuerst den nächstbesten Friedhof an, oder: Du hebst ab! Fliegst davon! Und kaum hatte ich das zu mir selbst gesagt, plumpste mir die Fee in den Schoß und flüsterte es mir ins Ohr: Adrian Mielnickel, du machst dich augenblicklich auf die Socken!»

«Und wohin werden Sie fliegen?» fragte Roxane. Sie erschrak über sich selbst. Hatte sie das gerade gefragt?

«Weit übers Meer und links!»

«Na, guck!» Roxane nickte. Dann musste sie schlucken. Dann fing sie an zu lachen. Ein langsam heranrollendes Glucksen war es, das ihr da herausgerutscht kam. «Ganz schöne Strecke!» gluckste sie. «Weit übers Meer … und dann links? … Kann man da noch mitfliegen?» 

Er fing wieder an zu singen. Leise über den Tisch.



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Ich wollt, ich könnt im Möwenflug

Die erste Strecke nehmen,

Ich weiß noch nicht, wie heb ich ab,

Mach ich nach fünfzig Metern schlapp,

Blackout in den Systemen?


Roxane hatte mitgesummt. Auf gut Glück. Der Sonntagmorgen war sowieso vermurkst. Sie dachte an ihre gescheiterte Besziehung … immerhin, er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht … Gattin des künftigen Filialleiters der Kreissparkasse Schribbsdorf mit Opern-Abo … das hätte ihre gemeinsame Zukunft sein können … und der Schlapphut sang schon wieder …


Ich wollt, ich könnt die Flügel drehn

In Richtung Paradiese,

Ich weiß noch nicht, wo halt ich an,

Ob ich die Landung schaffen kann

Im Sumpfloch einer Wiese?


Roxane stand von ihrem Stuhl auf. Und setzte sich sofort wieder. Und weil ihr das ganz und gar absurd erschienen war, wiederholte sie es: Sie stand auf und setzte sich wieder. Der Dackel am Nebentisch bellte. Und der Schlapphut sang …


Ich wollt, ich könnte vor mir her

Die Wolkenberge schieben,

Ich wollt, ich wäre stark und schrie

Den Himmel an, als hätt ich nie

Mich unten rumgetrieben.


Ich wollt, die Sehnsucht wär aus Gold,

Ich hätt sie in Paketen,

Die nähm ich mit, egal wie schwer,

Nähm ich sie mit weit übers Meer,

Wohin die Winde wehten …



«Beneidenswert, was Sie sich da vorgenommen haben!» sagte Roxane. Sie erkannte ihre Stimme nicht. «Aber ein frisches Hemd für die lange Reise hätten Sie ruhig riskieren können!» Wie bitte …? Fing sie jetzt ein Gespräch mit ihm an? 

«Ich hatte es auf einmal eilig heute Morgen» entgegnete er. «Habe mir meinen Lieblingshut geschnappt und bin von zu Hause ausgerissen. Sie schliefen alle noch, als ich das Haus verließ. Dachte ich jedenfalls. Ich bin ein kurzes Stück unsere Straße entlang gegangen, und hinter der ersten Kreuzung – ich wollte es selbst nicht glauben – bin ich zum ersten Mal vom Boden abgekommen. Ja, ich bin geflogen! Eine kurze Strecke die Linksabbiegerstraße entlang!»

«Die Linksabbieger lang, aha … hätte ich auch so gemacht! Aha … ja, und? Dann die Rechtsabbieger, oder wie?» 

Der Schlapphut hatte nicht hingehört. Redete ungebremst weiter. «Dabei haben die Herrschaften mich beobachtet. Standen plötzlich allesamt auf dem Bürgersteig und sahen mir beim Flugtraining zu. Meine Zettelbotschaft hatte sie aufgeschreckt.»

Roxane nickte … ihre beste Freundin war mit einem Nervenarzt verbandelt, bei dem würde sie locker einen Termin bekommen, den Schlapphut konnte sie gleich mitnehmen  … der griff gerade nach seinem Wasserglas, es kippte um, das Wasser lief über die Tischkante, er kümmerte sich nicht darum, Roxane dachte an den Bodensee, da wollte sie immer mal hin, er redete …

«Auch hinter den Fenstern standen auf einmal Leute und guckten. Meine ersten Flugversuche waren nicht ohne Lärm abgelaufen, können Sie sich vorstellen, das Herumgestolpere am Anfang, der Jubel, als ich vom Boden abkam – keine Ahnung, was ich da gebrüllt habe – aber es wird die Leute aus dem Schlaf gerissen haben. Also setzte ich sofort zur Landung an und rief es allen zu, über die Straße hinweg und zu den Fenstern hoch: Ihr habt es gerade gesehen, ich werde ein Vogel sein! Heute noch!»

Roxane verzog keine Miene. Sie nickte. Sie sagte: «Hätte ich an Ihrer Stelle auch gerufen …» 

«Zugegeben, meine Schöne, es war kein großartiger Flug gewesen, den ich da geboten hatte, und ich wollte mich auch davonstehlen und in aller Heimlichkeit irgendwo weitertrainieren. Aber sie sind mir gefolgt. Bis hierher. Vorhin, als ich mir ein Frühstück bestellen wollte – dort hinten in der Ecke saß ich – krochen sie plötzlich alle auf mich zu. So jedenfalls kam es mir vor. Da ist mir der Appetit vergangen. Ich stand vom Stuhl auf und steuerte Ihren Tisch an, denn hier war ich erst einmal in Sicherheit.» Er kicherte. Fing an zu flüstern. «Sie waren ins Spiel gekommen, meine Schöne. Jetzt trauen sich die Herrschaften nicht an mich heran! Diese Konstellation können sie sich nicht erklären. Vielleicht wittern sie ja so etwas wie eine Sensation, reden sich ein, ich könnte mit Ihnen eine Eroberung gemacht haben …»

«Oh ja, das haben Sie! Doch, doch!» Roxane sprach leise. Schloss die Augen. «Wir sind ein wunderschönes Paar, finden Sie nicht?» … Sie kannte das … diese Neigung zum Galgenhumor … der brach jetzt bei ihr durch … war nicht mehr aufzuhalten … 

«An eine solche Eroberung wollen die Herrschaften natürlich nicht glauben. Weil: Eine Eroberung in meinem Alter, die wäre in ihren Augen ein Wunder, mit dem nicht mehr zu rechnen war.»

«Ein Wunder, Sie sagen es! In meinem Alter auch.» Roxane zog die Nase hoch. Laut. Sie hätte losheulen können.

«Ein Wunder, dem man etwas Zeit zur Entfaltung gibt, ehe man darüber nachdenkt, wie man es ausschlachtet. So nämlich sehen es die Herrschaften …» Der Schlapphut kicherte hinter der vorgehaltenen Hand. «Mit meinen Eroberungen sind die Herrschaften immer diskret umgegangen, kann ich Ihnen sagen. Man hat sie zur Kenntnis genommen und gerne davon profitiert. Enzo Cartelli, dieser bemerkenswert mitfühlende Zeitgenosse da drüben … schauen Sie zu ihm hin! Fällt es Ihnen auf? In Gedanken verkauft er uns beide gerade an die Presse!»

Roxane biss sich auf die Unterlippe. Dann zischte sie: «Dem werden wir ein Schnippchen schlagen!»

«Ich empfehle, meine Schöne: Wir lassen den guten Enzo über unsere Pläne nicht länger im Ungewissen! Gestatten Sie mir also, dass ich Ihnen ein wenig näher auf die Pelle rücke. Ich benötige Sie und Ihre Schönheit. Kurzfristig. Vielleicht darf ich sogar meinen Arm um Ihre Hüfte legen, wenn wir gemeinsam das Restaurant verlassen?»

Roxane nickte zustimmend: «Wir tun uns keinen Zwang an!»

«So müssen wir es durchziehen, wunderbar!» Er holte schniefend Luft. «Und dann nichts wie ab irgendwohin in den Untergrund! Die Herrschaften werden uns folgen, damit ist zu rechnen. Sie werden alles versuchen, um uns auf den Fersen zu bleiben. Deshalb müssen wir auch sofort in den zügigen Dauerlauf wechseln, wenn wir das Restaurant hinter uns gelassen haben!»

«Genau so!» bestätigte Roxane. Und leise fragte sie: «Das kriegen wir hin: davonzufliegen?» Sie schloss die Augen. Wollte nichts von alledem ernst nehmen, was ihr der redselige Schlapphut da erzählte, aber sie hatte plötzlich Lust auf Verrücktheiten! «Davonfliegen – das ist doch eine ziemlich komplizierte Angelegenheit!» gab sie zu bedenken.

«Ich glaube, es ist ganz einfach», widersprach er. «Ich habe es schon einmal geschafft. Liegt lange zurück.» Er senkte die Stimme. «Damals war ich ein junger Mann, gerade zwanzig, ich bin davongeflogen, über alle Dächer nach … ich weiß nicht mehr, wohin. 

«Hülsenhohe?» Roxane lächelte. Machte sie sich jetzt über ihn lustig?

«Ich weiß es nicht mehr. Mit der ersten Zwischenlandung hatte es mich in einen Park verschlagen, an einem warmen Sommerabend, die Besucher hatten den Park längst verlassen, nur eine junge Frau, ein Engel, hockte noch hinter einem Gebüsch auf der Wiese und las in einem Buch. Sie hatte die Welt um sich herum vergessen, las und wollte, so schien es mir, auf der Wiese übernachten. Und so habe ich sie kennengelernt: Tita, meine Frau. Damals ein geheimnisvolles Wesen, das mich mit einem unglaublich ansteckenden Lachen zum Bleiben überredete. Ich bin an diesem Abend nicht weitergeflogen. Am nächsten Tag auch nicht. Als ich es nach unserer Hochzeit später noch einmal versuchte, hatte ich vergessen, wie ich es anstellen muss. Vor zwei Jahren haben wir uns scheiden lassen.» 

Roxane sah ihn an … betrachtete ihn, als sähe sie in ihm einen jungen Mann, der auf sie zugelaufen kam, der sich zu ihr setzte, der ihr die ganze Welt erklären wollte, der sie mit sich fortzog zur Kreissparkasse … sie wischte sich über die Augen. Keine Frage: Jetzt war sie auch verrückt geworden!

«Ich werde es genauso machen wie damals, meine Schöne! Mir ist nämlich wieder eingefallen, worauf es ankommt. Ich werde alles vergessen, was ich weiß und wie man sich bewegt. Das ist wichtig! Und ich werde mit den Flügeln schlagen, so gut ich es schon kann. Man muss daran glauben können! Das ist alles. Ich habe vorhin mit dem Hotel Auenblau telefoniert und angefragt, Sie kennen es? Dort kann ich ein Zimmer bekommen inklusive Zugang zum Fitnesskeller. Na, und dort werde ich trainieren. Den Gleitflug. Den Sturzflug. Den Langstreckenflug. Ich weiß es: Ich werde ein Vogel sein!»

«Ich wünsche es uns», sagte Roxane kaum hörbar. 

«Bedeutet das, Sie stimmen zu? Sie werden meine heimliche Geliebte sein? Kurzfristig? Bis wir die Herrschaften abgeschüttelt haben?»

«Ich halte das alles für einen Spleen», entgegnete sie, «aber warum nicht? Vielleicht kann ich in Gedanken sogar ein bisschen mitfliegen …» Sie lächelte den Schlapphut herausfordernd an: «Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen, junger Mann?»

«Sie erlauben, dass ich Ihnen eine Liebeserklärung mache?»

«Ich werde Sie nicht unterbrechen!» 



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Vielleicht zählt Unsereins zum alten Eisen,

Vielleicht soll morgen schon Verschrottung sein,

Vielleicht schlägt Unsereins die letzten Schneisen

Und drängt sich einmal noch ins Leben rein.


Ich war zum letzten Mal vor tausend Jahren

Verliebt in eine längst vergessne Frau,

Ich weiß nicht mehr, ob wir im Himmel waren,

Wir wollten hin, das weiß ich noch genau.


Ich bin kein Mann von Welt und von Erfahrung,

Ich geh tagaus tagein im gleichen Hemd,

Und alle Wunder einstiger Behaarung

Hat mir die Zeit für immer weggekämmt.


Ich denke gern an jene Glücksmomente,

Da ich noch sagen konnte: Fünfzig – und?

Es geht dein Geist noch lange nicht in Rente,

Du brauchst noch lange keinen Ausgehhund!


Jetzt, da die Siebzig angefangen haben,

Nehm ich den Hund als gottgegeben an

Und lass mich gerne mit dem Hund begraben,

Wenn ich mich einmal noch verlieben kann.



«Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!» Enzo Cartelli, der Manager an der Tür – nach ein paar Quietschgeräuschen hatte er die Mikrofonanlage auf Gartenlautstärke eingestellt, und jetzt setzte er zu einer Rede an. «Wir feiern heute», trompetete er, «an diesem sonnenüberschütteten Maienmorgen feiern wir den Geburtstag eines großen Sängers! Sie alle kennen und lieben ihn unter seinem Künstlernamen: Adrian Adriano! Gebürtiger Schribsdorfer! Den es in jungen Jahren Richtung Hollywood getrieben hat, der gestern Abend noch in Hülsenhohe auf der Bühne stand, bravo! Den man in Oldenburg feierte, der gern und oft in Hildesheim gesungen hat. Oh, ja, die Bretter bedeuten ihm eine Welt, und der flügelleichte Swing war immer seine Spezialität. Und so habe ich mir als sein Manager gedacht, dass wir ihn jetzt hierher zum Mikrofon bitten werden, auf dass er uns einen seiner Evergreens zum Besten gebe, bravo!» Enzo Cartelli warf die Hände über den Kopf und klatschte den Leuten zu. Die Leute an den Gartentischen klatschten hier und da mit. «Auf gehts!» wurde gerufen. Schwiegertochter Marlene, das Kalkgesicht mit dem Obsttellerhütchen, war unversehens aufgesprungen und rief: «Er lebe hoch!» Tita, der geschiedene Engel, wedelte mit den Händen einen Vierertakt in die Wolken und rief: «Rattattatamm!» Ein paar Leute standen von den Stühlen auf, denn über Lautsprecher ließ Enzo Cartelli jetzt eine Swingband von der Leine. «Wir hören», jubelte der Manager ins Mikrofon, «wir hören, meine Damen und Herren, von und mit Adrian Adriano, die ganz und gar romantische Ballade: Im Durchschnitt liegt das Glück der Welt!  

Die Musik wurde laut. Ein Paar war aufgestanden und fing an zu tanzen. Andere Paare folgten. «Mein lieber Adrian, dann komm doch bitte zu uns ans Mikrofon!» trompetete der Manager.

«Das könnte ihm so passen!» knurrte Adrian Mielnickel. «Folgen Sie mir!» zischte er Roxane zu. Im gleichen Augenblick stand aber Manager Enzo Cartelli am Tisch, nahm Adrian am Ellenbogen und zog ihn mit sich zum Mikrofon. Die Leute klatschten. «Ich will aber nicht!» fauchte Adrian ins Mikrofon. Die Leute johlten und riefen: «Er will aber nicht!» Und der Manager sang auch schon die ersten Takte der angekündigten Ballade, dass es aus den Lautsprechern nur so schepperte. Adrian blieb stumm. Er stand vor dem Mikrofon, schaute auf die Leute, suchte mit dem Blick Roxane, er konnte sie im Getümmel nicht entdecken, aber sie sang! Roxane – er glaubte es ganz deutlich zu hören – Roxane sang, sang für ihn! Oder er? Er sang für sie?



– hören >>


He, Frau mit Spleen! Bist du vorausgeflogen,

Gerade eben im Gedankenflug,

Gleich hinterm Bahnhof bist du abgebogen,

Als hinter dir die Bahnhofsuhr – dreizehn schlug.


He, Frau mit Spleen! Ich seh uns beide fliegen,

Wir treffen uns demnächst an einem Baum,

Du bist dann schon mal auf den Baum gestiegen,

Wer weiß: Der Baum gehört vielleicht zu einem Traum.


He, Frau mit Spleen! Dort in die Ferne blickend,

Sitzt du und fragst dich, wie krieg ichs hin,

Den Mann mit Spleen, an seinem Traume strickend,

Mit List als Träumenden in meinen Traum zu ziehn.


He, Frau mit Spleen! Uns trennen viele Welten,

Doch in der Träumerei wärn wir ein Knüllerpaar,

Wir könnten insofern als Traumpaar gelten,

Das nicht nur eine Zwischenzeitbekanntschaft war.



Sie waren im Gleitflug aus dem Gartenrestaurant geflüchtet. Die Leute, von Manager Enzo Cartelli animiert, johlten noch, und hier und da wurde getanzt – da hatte Roxane sich durch die Menge gewühlt, hatte den verdutzt guckenden Adrian Mielnickel am Hemdärmel gefasst und zog ihn mit sich fort. «Gleitflug!» hatte sie ihm zugerufen. Setzte selbst zum Gleitflug an, und Adrian stolperte ihr hinterher. 

Im Handumdrehen waren sie auf die Straße gelangt. Verfolgt von der plötzlich aufgeschreckten Verwandtschaft. «Die haben noch nicht bezahlt!» rief die Kellnerin – aber die beiden Zechpreller waren schon außer Sichtweite, und einen Augenblick später waren sie wie vom Erdboden verschluckt. Die Verfolger hatten das Nachsehen.


Adrian Mielnickel trainierte im Fitnesskeller des Hotels Auenblau zunächst den Sturzflug. Denn der war ihm auf der Treppe nach unten im ersten Anlauf missglückt: Kopfüber war er an einer Bruchlandung vorbeigeschrammt. Auch Roxane konnte mit ihrem ersten Flugversuch nicht wirklich zufrieden sein: Übermütig und mit geschlossenen Augen hatte sie sich, übers Treppengeländer rutschend, an einem Tiefflug versucht, aber das Abbremsen war dann beinahe zu einem Überschlag geworden. Adrian konnte sie gerade noch auffangen.


Bis zum Abend arbeiteten beide konzentriert an ihrer Flugtechnik. «Die Fingerspitzen müssen den Arm in direkter Linie verlängern!» erklärte Adrian. «Schon die geringste Fingerkrümmung führt zur Verwirbelung, und man bricht aus.» 

Roxane entdeckte ihre Leidenschaft für den Kunstflug, und sie empfand im Training ein Heidenvergnügen daran. Um Mitternacht saßen beide im Hotelzimmer bei einer Flasche Rotwein zusammen. Eine zweite Flasche stand in Reserve. Adrian erzählte von den Welten, die er anfliegen wollte, und Roxane hörte ihm zu. 

Und irgendwann – Roxane fuhr sich einmal … zweimal mit den Handrücken über die Augen … irgendwann sah sie Adrian durchs Hotelzimmer fliegen. Ja … er flog … 


Als Roxane sich gegen Morgen verabschiedete, sagte sie ein bisschen rotweinselig und – sie wunderte sich über sich selbst – auch ein bisschen verliebt: «Ich komme wieder. Dann sprechen wir von meinen Welten!»

Auf dem Heimweg verlief sich Roxane, denn der Rotwein wirkte in der Morgensonne nach. Sie kam an einem Fußballplatz vorbei. Dort hockte eine Taube mitten auf dem Rasen, und als sie, von Roxanes Schritten jäh aufgeschreckt, in den Morgenhimmel abhob, versuchte Roxane aus den Flugbewegungen der Taube die Geheimnisse des Blindflugs herauszulesen. Und blind drauflosfliegend landete sie schließlich vor ihrer Wohnungstür. Sie legte sich sofort schlafen. In ihrem Traum fand sie sich bei den olympischen Sommerspielen als Kunstfliegerin wieder. 


Roxane schlief bis zum Mittag. Nach einem verspäteten Frühstück machte sie sich auf den Weg zur Kreissparkasse. Sie wollte unbefristeten Urlaub nehmen. Ihrem Chef, dem Kreissparkassendirektor Mühlbein, erklärte sie, sie wolle sich nun für eine Weile planlos ins Leben stürzen, und wenn sie denn eines Tages wieder Lust auf Kreissparkasse verspüre, werde sie zu den Aktenordnern zurückkehren. Herr Mühlbein nahm das mit einem Hundeblick zur Kenntnis. «Die Papiere schicken wir Ihnen zu, junge Frau!» waren seine letzten Worte.


Roxane nutzte den Nachmittag für ihr Flugtraining. Bis zum Abend. Dann machte sie sich auf den Weg zum Hotel Auenblau. An der Rezeption bat sie darum, man möge bei Herrn Adrian Mielnickel nachfragen, ob er ansprechbar sei. Ihr wurde erklärt: Herr Mielnickel sei am Morgen bereits abgereist. Er habe aber einen Brief hinterlassen, erklärte die Rezeptionsdame, «Herr Mielnickel hat Ihr Bild auf den Umschlag gezeichnet.» Roxane öffnete den Brief. Sie las: 



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Roxane, meine Schöne, du, ich konnte

Nicht länger warten,

Du, ich flieg schon mal voraus,

Gestern Abend warst du alles,

Warst die Sehnsucht, warst die Zeit …

 

Hinter allen Zeiten warst du,

Und beim Wolkenschieben warst du

Aller Unsinn, alle Schönheit,

Du, ich fliege eine Acht …

 

Unter mir schwimmt eine Insel,

Flieg ich weiter, flieg ich tiefer?

Alle Farben seh ich unten,

Farben, die ich noch nicht kenne …


 Ach, Roxane, meine Schöne,

Seh ich dich da unten wedeln

Mit den Händen, meine Schöne?

Du, ich fliege erst mal weiter,

Immer weiter, immer weiter ….


Irgendwo lass ich mich tief und tiefer fallen,

Und dann lieg ich zwischen Muschelkalk und Quallen …


Irgendwo malt mir die Sonne einen Fleck

In den Sand, dort bleib ich, oder ich lauf weg …

 

Irgendwo bin ich vielleicht nach links gebogen,

Oder hab mich an Lianen hochgezogen …


Irgendwo erwartet mich ein Inselstück,

Und dort sitz ich dann eventuell im Glück …


Roxane faltete den Brief zusammen. Ganz langsam. Sie wusste es: Sie würde ihm hinterherfliegen. Dieser verrückte Kerl! Dann fragte sie an der Rezeption nach, ob sie auf unbestimmte Zeit den Fitnesskeller mieten könne.