+ Weit übers Meer und dann links


 Theaterstück für Kinder und Eltern


(Erstveröffentlichung: Thienemanns Theaterverlag, Stuttgart)



Das Stück ist für ein mobiles Theater eingerichtet. Es kann in jeder Schul-Aula aufgeführt werden. Dementsprechend einfach sollte das Bühnenbild sein: Beispielsweise eine verwandelbare Klapp- oder Dreh-Wand. Versatzstücke sind: Ein niedriger Tisch und zwei Stühle (stehen von Stückbeginn an auf der Seitenbühne). Die Geräusche werden stereophon aufgenommen, so dass sie links und rechts zu lokalisieren sind. 


PERSONEN

Therese Mielnickel, Hans Mielnickel, Adrian und Max Mielnickel 

(die Mutter, der Vater, die Söhne) 


ORTE

Straßen in Schribbsdorf und Wohnzimmer bei Mielnickels 


ZEIT

Heute. Sonntagnachmittags. 


VORBEMERKUNG

Weit übers Meer und dann links erzählt die Geschichte einer ganz normalen Kleinstadtfamilie. Sonntags, nach dem Mittagessen, macht die Familie einen Spaziergang durch die Stadt: Hans Mielnickel, der Vater, Therese, die Mutter, Max, der später einmal Fußballspieler werden will – und Adrian. Adrian ist in der Familie, die Mutter sagt es, «die Extrawurst». Sie hat Adrian gefragt, was er denn einmal werden wolle? Seine Antwort: Vogel. Er will davonfliegen. Im ersten Teil der Geschichte erleben die Zuschauer, wie Adrian sich in einen Vogel verwandelt, und wie die Umwelt auf derart Unbegreifliches reagiert. Im zweiten Teil erleben sie, wie die Familie versucht, Adrian in die Welt des gesunden Menschenverstandes zurückzuholen, und wie Adrian versucht, die Familie in seine Welt zu locken. Am Ende der Geschichte fliegt Adrian davon. In das Land seiner langen Träume nachts und am Tage. Es hat keinen Namen. Es ist das Land, das aus Wünschen und allen Farben gemacht ist Das Land, von dem jeder Mensch einmal träumt. Das er als Kind in Apfelbäumen oder auf Dachböden manchmal besessen hat. 




ERSTES BILD 


(Straße in Schribbsdorf – Auftritt durch den Zuschauerraum: Die Schauspieler. Sie gehen auf die Bühne. Der Darsteller der Rolle Hans Mielnickel nimmt Krawatte und Jacke, die über einem Stuhl hängen.

 

SCHAUSPIELER: Guten Tag. Ich heiße … (Name des Darstellers) Ich binde mir jetzt einen Schlips um und ziehe eine Jacke an, (tut es) und jetzt heiße ich nicht mehr … Jetzt heiße ich: Hans Mielnickel. Jetzt bin ich ein Vater mit einem kleinen Bierbauch und einer lauten Stimme, und jetzt gehöre ich zu einer Geschichte. Die Geschichte heißt: Weit übers Meer und dann links. Es spielen noch mit in der Geschichte: Die … (Name der Darstellerin) sie heißt in unserer Geschichte Therese Mielnickel, sie ist die Mutter. Der … (Name des Darstellers) heißt in unserer Geschichte Adrian Mielnickel, und der … (Name des Darstellers) heißt Max Mielnickel. Unsere Söhne! Wir sind eine Familie, wir wohnen in einer kleinen Stadt, in Schribbsdorf, es ist Sonntagnachmittag, die Familie Mielnickel geht durch die Stadt, Leute sind unterwegs – zum Beispiel Herr Uhrmann auf dem Fahrrad. (VomTonband:Fahrradklingelvon links nach rechts.) Tag, Herr Uhrmann! – Ja, so spielen wir das, wenn Leute vorüberkommen. Also: Es ist Sonntagnachmittag, und es wird heute ein ganz dickes Ding passieren. Eine ganz unglaubliche Geschichte möchten wir euch vorspielen, eine Geschichte aber, die so ähnlich jeden Tag passieren kann in der Welt, so, wie ihr die Welt kennt. In Düsseldorf, in Mettmann oder in Köln. 


(Die Schauspieler gehen hinter die Bühne. Dann scheppert eine Blechbüchse auf die Bühne. Max poltert hinterher. Er spielt mit der Büchse Fußball, und gleichzeitig gibt er eine Reportage seiner Fußballkunst zum Besten.) 


MAX: Ja! Ja! Und schon wieder ist der Max Mielnickel am Ball, meine verehrten Zuhörer! Und schon wieder spielt er den Gegner aus, wuchtet den Ball am Gegner vorbei über die Mittellinie! Kraftvoll! Voller Kraft! Fußballkaiser: Max Mielnickel! Wen soll er anspielen? Wo soll er hinspielen? Keiner seiner Freunde ist mit ihm nach vorn gelaufen, und der Gegner bedrängt ihn hart! Und was macht er, der Max Mielnickel? Ja! Ja! Er zögert keinen Augenblick! Und über eins, zwei, drei gegnerische Köpfe hinweg knallt er das Leder ins lange Eck! (Die Büchse ist in der Kulisse gelandet.) Tooooor! Max Mielnickel schießt in der dreiundzwanzigsten Minute das Eins-zu-Null! (Er liegt auf dem Bühnenboden und trommelt mit den Fäusten.) Das Stadion rast! Bravo! Dreiundzwanzigmal: Bravo! 


HANS: (Hinter der Bühne) Adrian! (Auftritt: Die Eltern) 


THERESE: Dass es mit dem immer ist wie mit der Extrawurst – Max! Die Straße ist doch kein Fußballplatz! Was sollen denn die Leute sagen: So, wie du da herumfuhrwerkst. Am heiligen Sonntag. Mit der neuen Hose. Hopp! (Hans lacht) Hans! Nun sag doch auch mal‘n Ton. 


HANS: Therese, den Jungen musst du lassen. Der Junge spielt einen Fußball wie keiner sonst in seinem Alter. Die Leute wissen das. Und die Leute halten die Luft an, wenn der Junge vorbeifegt! 


THERESE: So reden alle Väter und lassen sich von den Herren Söhnen einwickeln. Also gut, warten wirs ab, was mal draus wird. 


HANS: Kuck ihn dir doch an, Therese, wie der Junge gebaut ist! Hier bei uns in Schribbsdorf ist er doch jetzt schon eine Berühmtheit, hab ich nicht recht? Was, Max? 


MAX: Hab ich euch schon mal den Mielnickeltrick gezeigt? 


HANS: Therese, hast du das gehört: Der Mielnickeltrick! Dein Sohn! Wie der sowas ausm Ärmel schüttelt. Der Mielnickeltrick! Was der sich so ausdenkt! (Max bereitet mit mehreren Anläufen den Mielnickeltrick vor) 


THERESE: Fußball? – Kasperletheater! 


MAX: Mensch! 


HANS: Therese! Wie kannst du so daherreden! Wie kannst du den Jungen so enttäuschen! 


THERESE: War ja nicht so gemeint. 


HANS: Los, Max! Zeig deiner Mutter mal den Mielnickeltrick. Wär doch gelacht, wemi ihr das nicht in die Beine geht, und sie spielt mit! 


THERESE: Dass du immer übertreiben musst, Hans. 


MAX: Simsalabim: Der Mielnickeltrick! 


THERESE: Und der Adrian trödelt! Der Junge trödelt wieder mal. (Sieläuft hinter die Bühne.) Adrian! 


HANS: Therese! 


THERESE: (Kommt zurück) Was dem Jungen so einfällt … kuck dir das mal an. (Gemeint ist Adrian) 


MAX: Simsalabim: Und der Max Mielnickel nimmt den Ball mit der Spitze – und hoch! Und noch mal hoch über den Kopf auf die Hacke! Und mit der Hacke wieder nach vorn – und Schuss – und Tooo … (Er stolpert und fällt auf die Nase. Die Eltern lachen. Max ist beleidigt und trottet von der Bühne.) 


THERESE: Flausen haben diese Bengels im Kopf heutzutage. – Adrian! Wir wollen weiter! 


HANS: Flausen? Du, Therese, das sind keine Flausen. Der Max, das ist einer, der klebt am Ball! 


THERESE: Halb so schlimm.


HANS: Und Fußballspieler ist heutzutage 'n Beruf! 


THERESE: Ja, ja. 


HANS: Der Beruf überhaupt! 


THERESE: Du wirst schon wissen, was du sagst, Hans. 


(Über Tonband: Eine Frauenstimme mit «Huhu! Huhu!» an der Rampe links.) 


THERESE: Huhu! Tag, Frau Jansen! 


(Hans winkt Frau Jansen zu, die er nicht mag; dann geht er hinter die Bühne.) 


THERESE: Ja, Familienausflug! Bisschen frische Luft schnuppern! Man will ja nicht immer vorm Fernseher hocken! 


HANS: (Hinter der Bühne) Adrian! (Kommt zurück) Du, Therese, was ist denn mit dem Jungen? 


THERESE: Hans! Sag doch wenigstens guten Tag! 


HANS: Tag, Frau Jansen. – Du, Therese, kuck dir das mal an … der Adrian! Der hüpft da hinten herum wie … ich weiß nicht, wie. 


THERESE: Tschüsschen! – Hans! 


HANS: Tschüss, Frau Jansen. 


THERESE: Wie was? 


HANS: Was? 


THERESE: Du hast gesagt: Er hüpft da hinten herum wie… also wie denn? 


HANS: Tja … 


THERESE: Wien Vogel? 


HANS: Ja, kann man sagen: Wien Vogel. Wie kommst du überhaupt auf Vogel? 


THERESE: Ich wollts dir ja schon immer mal sagen. – Adrian! Wir wollen weiter! – Also, der Junge … ich hab ihn neulich gefragt, was er denn mal werden möchte. Nicht wahr, jetzt, nachdem wir wissen, der Max wird Fußballspieler … 


HANS: Na, und ob!


THERESE: Also, was er denn mal werden möchte, hab ich deinen Sohn gefragt. 


HANS: Ja, und! Was will er denn Schönes werden? 


THERESE: Vogel.


HANS: Vogel?


THERESE: Vogel. 


HANS: (Der sich gleich darüber ausschütten wird vor Lachen) Vogel? 


THERESE: Und er hat gesagt: Das ist gar nicht so einfach, wenn man Vogel werden will. 


HANS: Hat er gesagt! 


THERESE: Und dann sagt er noch: Darauf muss man sich vorbereiten. Vogel! 


HANS: (Lacht und lacht) So ein ausgefuchster Possenreißer, son Clown! Vogel will er werden! – Du, da hat dich aber einer ganz schön angeschmiert! Liebe Frau! Einfälle … Einfälle hat der Junge, so hat sie nur ein waschechter Mielnickel!


THERESE: Du denkst, der Junge macht sichn Spaß!

 

HANS: Aber ja! Du denn nicht? Du willst mir doch nicht einreden … 


THERESE: Doch!

 

HANS: Was denn doch? 


THERESE: Es ist dem Jungen sehr ernst damit. Und irgendwie hab ich den Eindruck … als wär da schon so irgendwas Vogeliges. (Hans lacht) Ich weiß nicht, wie ichs ausdrücken soll … 


HANS: Therese! 


THERESE: Kuck ihn dir doch mal an, wie er da herumhüpft! Sieht das nicht schon ’n bisschen so aus …? 


HANS: Du kannst einen ja richtig meschugge machen, so wie du da herumredest! Er hüpft halt! Alle Kinder hüpfen! 


THERESE: Ja. Aber dein Sohn hüpft halt wien Vogel. 


HANS: Adrian! – Wollen wir doch mal von ihm selber hörn, wie wir das zu verstehen haben. (Er geht hinter die Bühne.) Adrian! Junge, wo bleibst du denn! 


(Auf die Bühne hüpft – mit den Armen wie mit Flügeln schlagend – Adrian. Hans kommt ihm hinterher und lacht.) 


HANS: Tja, Adrian, deine Mutter hat mir das eben verklickert: Du willstn Vogel werden. Ja, und was wirste denn fürn Vögelchen? ’N Storch? Oder’n Kakadu? 


ADRIAN: (Sehr konzentriert und ganz ohne Pathos) Ich möchte ein Vogel werden, der lange fliegt. 


HANS: (Eine Sekunde lang sprachlos) So. Aha. Was du nicht sagst. – Ja, und warum überhaupt? Warum willste überhaupt’n Vogel werden? 


ADRIAN: Wenn ich ein Vogel bin, kann ich dir sagen, zumBeispiel: Ob das schön ist.

 

HANS: So. Ja. Und das sagst du so daher. So selbstverständlich. (Adrian macht einen Flugversuch, Hans verliert für Sekunden die Beherrschung.) Jetzt steh doch mal ruhig da! 


THERESE: Hans. Wie du da herumschreist.


HANS: Ja, aber leider funktioniert sowas nun mal nicht, mein Sohn. 


ADRIAN: (Einfach) Du weißt das nicht.


HANS: Die Welt ist nicht gerade … wie der Herr Mielnickel Junior es will 

… so isse nicht erfunden worden. Vogel! Dummes Zeug! 


ADRIAN: (Ohne Pathos, aber stark im Ausdruck) Das sagst du, weil du nicht daran glauben kannst. Ich glaube daran. Und ich bereite mich darauf vor. Man muss sich darauf vorbereiten. Ich will alles vergessen, was ich weiß, und wie man sich bewegt, und dass es Bücher gibt. Alles. (Hans lacht) Ja! Das ist wichtig! Und ich schlage mit den Flügeln, so gut ich das jetzt schon kann.Man muss daran glauben können. (Hans lacht) Du kannst es nicht. Und ich sag es dir ganz laut: Ich werde ein Vogel sein. (Hans lacht) Heute!


HANS: Quatsch! Hundertmal Quatsch! Ein waschechter Mielnickel … das ist und das bleibt …


ADRIAN: (Fällt Hans ins Wort) Waschecht und Mielnickel, jaja. 


HANS: Waschecht und Mielnickel, jawohl! Da ändert sich aber auch nichts! (Zu Therese) Hab ich nicht recht? 


ADRIAN: Da ändert sich aber auch alles.


HANS: Jetzt halt aber mal die Luft an!


THERESE: Flausen haben diese Bengels im Kopf heutzutage!


HANS: Deine Mutter ist ja schon kalkweiß im Gesicht. Kuck sie dir mal an! 


ADRIAN: Ich werde heute ein Vogel sein, das ist so. 


HANS: (Macht sich über Adrian lustig) Da sitzt einem ja der Schreck im Leib, wenn man dich so reden hört. (Brüllt) Also Schluss mit dem Unsinn! 


(Adrian löst die Bewegung auf und steckt die Hände in die Hosentaschen. – Vom Tonband: Dackelgebell an der Rampe rechts.) 


THERESE: So’n Dackelchen, das ist doch was Liebes. Tag, Frau Bergmann! (Zu Hans) Einen schönen Zirkus bieten wir den Leuten hier auf der Straße. 


HANS: Tag, Frau Bergmann. – Adrian! Adrian Mielnickel, was ist denn? Kein guten Tag? Kriegste den Schnabel nicht auf? 


(Adrian strengt sich sehr an, einen Vogelpfiff herauszubringen. Beim dritten Versuch gelingt es.) 


THERESE: Hans! 


HANS: (Eine Sekunde lang sprachlos – dann ein polterndes Gelächter) Die Kinder, Frau Bergmann, nicht wahr? Nichts als Unsinn im Kopf. Tschüsschen, Frau Begmann! 


THERESE: Tschüsschen! – So eine Blamage für die ganze Familie! 


(Auftritt Max. Er spielt Fußball.) 


MAX: Und schon wieder ist der Max Mielnickel am Ball, meine verehrten Zuhörer! Und zieht seine Kreise im Mittelfeld, und am Gegner vorbei, jagt er und jagt … 


HANS: (Brüllt) Schluss mit dem Unsinn! 


MAX: (Stolpert vor Schreck und fällt hin) He! Du kannst mich doch nicht einfach von der Seite anquatschen, wenn ich so in Fahrt bin! Foul! Elfmeter!


HANS: (Eine Sekunde lang sprachlos) Gradaus gehts weiter! 


(Die Eltern ab.) 


MAX: Der alte Vater Mielnickel, wie der sich auf einmal dick macht: Grad aus gehts weiter! Ganz neue Töne von dem Brüllbruder. – Spielste 'ne Runde mit? 


ADRIAN: (Wieder ganz bei seiner Sache) Ich hab keine Zeit.


MAX: Mensch … wie redstn du mit mir! Wasn los in der Familie? (Adrian versucht eine Höhenflugbewegung.) Mensch! Im Tor wär das 'n ganz neuer Trick! Mach das noch mal! 


ADRIAN: Du störst mich! 


MAX: Mit der Nummer gehörst du ins Tor! Das seh ich ganz klar! 


ADRIAN: (Geht auf Max los) Verschwinde, oder …! Du sollst verschwinden! 


MAX: (In Boxerstellung) He, he, du bist doch gar kein Gegner für mich! – Tooooor! (Und er läuft den Eltern hinterher.) 


ADRIAN: (Wütend) Immer stören sie mich! (Im Gleitflugversuch geht er den Eltern hinterher.) 




ZWEITES BILD


(Stadtpark in Schribbsdorf. Vom Tonband: Entengegacker links und rechts. – Auftritt aus der Gegenrichtung: Hans.) 


HANS: Na, wer sagts denn! Die Familie Krüger! Sonntags immer unterwegs alle Mann hoch im Stadtpark und die Enten gefüttert! – Adrian! 


(Auftritt: Therese und Max.) 


THERESE: Schon wieder! Der hüpft schon wieder! 


(Vom Tonband: Kindenweinen.) 


HANS: Ja, und nun kuck mal die Cornelia! 


THERESE: Immer noch Zahnschmerzen? Tag, mein Kind. 


MAX: Muss man denn hier rumstehn? Ein Ass wie ich, der ist immer am Ball, der zieht seine Kreise, der hat seinen Weg! Mittelstürmer und Enten füttern! 


HANS: Da sagen Sie was, mein lieber Krüger: Der Größte! Diese Bengels, wenn Sie einen von der Sorte fragen, dann ist er immer der Größte! Ob er nun Mielnickel heißt oder Krüger oder was. 


THERESE: Die Cornelia? Schmiert sich Schuhcreme ins Gesicht? Aber das gibt Pickel, Herr Krüger! Bestimmt! 


HANS: Na, klar, der Max wird Profi! Und unser Adrian – mein lieber Krüger, das glauben Sie nie im Leben! Wissen Sie, was der mal werden will?


THERESE: Hans! Musst du das denn unbedingt hinausposaunen? 


HANS: Aber, ja! Kann man doch drüber reden. – Vogel! 


THERESE: Die Männer, Frau Krüger, nicht wahr? Nichts als Flausen im Kopf. 


HANS: Vogel! 


MAX: Bei dem hats doch schon immer gepiept. 


HANS: Vogel! Möglichst bald! Sozusagen: Heute! 


(Hans platzt vor Lachen. – Vom Tonband: Aufgeregtes Entengegacker. – Auftritt: Adrian. Sein rechter Arm ist jetzt ein großer roter Flügel) 


THERESE: Hans! Den armen Tierchen son Schrecken einzujagen. 


HANS: Ich! Weil man mal gelacht hat! 


MAX: Was‘n mit dem kaputt? 


ADRIAN: (Grenzenlos optimistisch) Ich glaube, ich werde ein hässlicher Vogel sein. Aber das macht nichts. Wichtig ist doch nur: Ich werde überhaupt ein Vogel. Nur das ist wichtig. 


MAX: Macke! 


ADRIAN: Auf den Flügeln sollte es blau schimmern. So hab ich mir das ausgerechnet. Und hellgelb abgetupft die Spitzen. 


MAX: Kannste kucken! 


ADRIAN: Ja. Pech. Rot. Gar keine Tupfer. Rot. Gar nicht nach Blau oder Hellgelb hinübergespielt. Aber – man sieht es jetzt noch nicht – aber ich kann es jetzt schon sagen: Auf den Flügeln wird ein Schimmer sein, und das sieht sehr gut aus! 


HANS: (Torkelt in einen Lachkrampf hinein) Also, wenn der nicht eines Tages im Zirkus den ganz besonders dummen August aufführt – also, mein lieber Krüger, dann heiß ich nicht mehr Mielnickel, dann dürfen’se Nickelbiene zu mir sagen! Kommt son Bengel daher, hängt sich Federn an den Leib: Hallo, da bin ich, euer hässlicher Vogel! 


MAX: Papageienfedern! Und die hat er geklaut! Im Zoo! (Er reißt Adrian eine Feder aus.) 


ADRIAN: Au! So eine Gemeinheit! Soll ich dir maln Büschel Haare ausreißen? Das tut genau so weh! Kuck dir das mal an: Da kommt doch sofort Blut! 


(Hans lacht schallend. Therese fällt in eine leichte Ohnmacht.) 


THERESE: Hans … die Beine … ich ertrinke … 


HANS: Therese …? – Max! Adrian! Dalli dalli und ab nach Hause! (Max und Adrian gehen ab.) Oh, vielen Dank, Frau Krüger, danke, es geht schon. Die Kinder, nicht wahr, was denen so einfällt! Da fährt einem ganz schön der Schreck in die Glieder! (Zu Therese) Wir gehn schnurstracks nach Hause, und du legst dich’n bisschen hin. – Wiedersehn! 


THERESE: Hallooooo … 


HANS: Das geht schon vorüber, du legst dich einfach’n bisschen hin. 


THERESE: Mein Gott, bin ich erschrocken. 


(Therese und Hans ab.) 




DRITTES BILD


(Anderer Teil des Stadtparks. – Auftritt aus der Gegenrichtung: Max und Adrian.) 


MAX: (Feixt) Baust du dir’n Nest? Oder solln wir dir’n Käfig kaufen? 


ADRIAN: Käfig? Ich fliege weg. Irgendwohin, 


MAX: Du haust ab? Die ganze Kiste Adrian quer durch die Stadt wien Hubschrauber? Das kauft dir doch kein Mensch ab. Das kannste deiner Großmutter erzählen, aber doch nicht mir! 'N Trick ist das. 'N Trick – die Nummer mit dem Blut. Tinte! Gibs doch zu! 


ADRIAN: Für dich ist es Tinte. Weil du’s nicht hineinkriegst in deinen dicken Kopf, was es wirklich ist. 


MAX: Du gibst vielleicht 'ne Stange an, Kollege! – Für meinen dicken Kopf ist es das, was ich sehe: 'n Trick! Oder? (Max untersucht den Flügel sehr genau – im Zuschauerraum wird es still) Mensch …! Wie sieht’n das aus? Das sieht ja aus … wie gewachsen! 


ADRIAN: Jaaaaa! (ln großen Kreisen trudelt Adrian über die Bühne.) 


MAX: (Ihm steht der Mund offen) Das sieht aus wie gewachsen! – Zeig noch mal her! (Er untersucht den Flügel noch einmal sehr genau.) Mensch! Und den andern Flügel… den kriegste doch auch so hin, oder? Genau so! 


ADRIAN: Ja. 


MAX: Du … du, da hätt ich 'ne Idee. Eine Idee wie’n Hammer. Du und ich – wir beide machen 'n Zirkus auf! 


ADRIAN: Was? 


MAX: Hat der alte Vater Mielnickel doch gesagt: Der Junge geht zum Zirkus! Machen wir zusammen! Ich als Direktor an der Kasse – und du: Du bist die ganz große Nummer. (Ausruferstimme) Der größte Clown der Welt, Damen und Herren! Weil er nämlich fliegt, Damen und Herren! – Das bist du! Und das kommt dann auf die Plakate, knallrot, und dann wirste berühmt, und wir kommen ins Fernsehn! Du und wir beide! 


ADRIAN: Ich will doch nicht berühmt werden. 


MAX: Jeder will berühmt werden, ich doch auch!Und du auch! Das seh ich doch ganz klar. 


ADRIAN: Nein. 


MAX: Wieso? Wieso willste dann überhaupt, dass du fliegen kannst? Das wär doch dann für die Katz. Das wär doch überhaupt keine Sensation! 


ADRIAN: Ich will fort. Ich fliege weg. 


MAX: Also ich, wenn ich weg wollte, ich würd mir’n Flugzeug nehmen, wenn ich das bezahlen kann, Max Mielnickel ganz groß erster Klasse Fensterplatz! Da fliegste ganz sauber nach Plan, und du weißt ganz genau, wo du hinkommst.

 

ADRIAN: Will ich gar nicht wissen.


MAX: Wieso? Du musst doch wissen, wo du hin willst!


ADRIAN: (Improvisiert) Irgendwohin… weit übers Meer … und dann links …


MAX: Ganz schöne Strecke. Das ist mindestens bis nach Hawaii. – Und alles ohne Zwischenlandung? 


ADRIAN: Bestimmt. 


MAX: Mensch! Und dann: Rückflug! Und Ankunft Schribbsdorf: Pünktlich elf Uhr siebzehn trotz Nebel! – Und die vom Fernsehn nehmen das auf, in Farbe, und dann biste trotzdem berühmt. (Maxfreut sich darüber.) 


ADRIAN: Lass mich doch zufrieden. 


MAX: Wieso? Du fliegst doch zurück, oder? 


ADRIAN: Nein … 


MAX: Wieso? Das ist ja ganz was Neues! Gefällts dir nicht mehr hier? Hier kennt dich doch jeder! 


ADRIAN: Ja. Und grade drum flieg ich weg. Hier kennt mich jeder. Und die Leute haben so’n Grinsen im Gesicht, wenn sie mir hinterherkucken. So’n Grinsen, als wüssten sie ganz genau, wer ich bin und was mal aus mir werden soll. Als wär das abgesprochen. Ein für alle Mal. «Ja, der Adrian, na! So ein höflicher Junge, und so gesund, und Gitarre spielt er auch, wie begabt! Und sein letzter Deutschaufsatz, na! Glatt eine Zwei! Und wissen Sie was: Der Adrian, wenn der so weitermacht, wird aus dem mal durch und durch ein Schribbsdorfer, wie man sich immer einen gewünscht hat. Der hat das Zeug dazu, jaaaaa!» – So was hörste doch jeden Tag! 


MAX: Warum sagstn das mit so’m Ton hintendran? Das ist doch ganz in Ordnung! 


ADRIAN: Menschenskind, ich will aber, das nichts in Ordnung ist! Das macht mich ganz krank. In Ordnung ist nämlich überhaupt noch nichts! Ich will gar nicht wissen, was sie sich über mich ausdenken, und was für einer ich mal sein soll. Intressiert mich nicht. Ich will weg! Ich habs satt, dass jeder hier an mir herumprobiert und Pläne macht, als hätten sie mich alle Mann hoch eingekauft und dürften das! 


MAX: Mann, du regst dich vielleicht auf. 


ADRIAN: Ja! Ich reg mich auf! Ich reg mich drüber auf, dass mir jeder hier seine Hand ins Gesicht tätschelt: «Adrian, mein Junge, du wirst mal einer wie wir, wie deine Eltern, aber ja!» – Und grinst mich an! So, als müsst’ ich eines Tages gerade so aussehen wie er, wie alle hier in der Stadt! Als müsst ich grade das denken und erklären können, wie sie's alle hier machen! Und keinen Strich anders! Findst du das in Ordnung? 


MAX: Du regst dich vielleicht künstlich auf. Erwachsene sind so. Ich hab damit keine Probleme. Du siehst das alles viel zu schwierig. 


ADRIAN: Ach, was. Es ist ganz einfach. Ich will ein Vogel sein – das ist alles. Und ich will ausprobieren, wie das ist. Und das ist dann ein Plan und eine ganz große Sache – und die hab ich selbst gemacht. Und so ist es schön. – Ich will alles vergessen, was ich weiß und was man mir erklärt hat, alles. Und alles und alles will ich neu erfinden und neu ent decken. Und dann gehört es zu mir! Und dann … dann ist es in Ordnung! 


MAX: (Lacht Adrian aus) Du bist ja übergeschnappt! Was du mal da oben drin hast, das kannste nicht einfach rausschütteln wie’n paar Läuse! Nicht mal im Sturzflug. Das bleibt da drin! – Erzähl das bloß nicht weiter. Die lachen sich ja alle krank. 


ADRIAN: Ich erzähl‘s ja nicht. Ich fliege weg. 


MAX: Einfach so? Tschüss und weg? 


ADRIAN: Ja … 


MAX: Dann stehnse aber da, der alte Vater Mielnickel und seine Therese, ganz schön belämmert. Und wissen überhaupt nicht, warum das alles so ist.


ADRIAN: Ich … kanns ihnen ja erklären. 


MAX: Die verstehn das nie! 


ADRIAN: Du auch nicht, oder? 


MAX: Ich versteh ’ne Menge. Aber was ich nicht versteh: Dass du gar nicht mehr zurückfliegst! – Is’n das so schlimm bei dir, dass du gar nicht’n bisschen die Familie gern hast? Die mögen dich doch! 


ADRIAN: Ja … 


MAX: Eltern sind immer’n Problem, das ist klar. Aber trotzdem: Man kannse doch so lassen, wie sie sind, und hat sie einfach gern. Dann ist es doch ganz gemütlich mit den beiden, oder?

 

ADRIAN: Ja … 


MAX: Na, klar! Und das ist nämlich auch 'ne große Sache: Dass sie einfach da sind, und du bist hier zu Hause, oder? 


ADRIAN: Vielleicht … 


MAX: Bestimmt! Ganz bestimmt! Da ist nämlich noch keine Woche rum, wenn du fliegst, und dann kriegste so was wie Heimweh. Garantiert! Und dann läufts dir nur so runter, wenn du das kriegst. Das kannste gar nicht so schnell wegwischen, wie das immer weiterläuft. Hab ich mal gesehn. Im Fernsehn. Vom Charlie Chaplin. Wie der gewischt hat! Und dann … hat er einfach nur noch losgeheult. 'N ganzen Teller voll. Und dann hat er Schiffchen fahren lassen – so’n Heimweh war das. 


ADRIAN: Trotzdem. Ich muss es ausprobieren. Wenn ich hierbleibe, wüird ich immer dran denken, und ich wär mit nichts zufrieden. Einfach, weil ich das nicht ausprobiert habe. 


MAX: Aber Heimweh kriegste! 


ADRIAN: Ach, lass mich doch zufrieden! 


(Adrian trudelt in großen Kreisen von der Bühne. Max guckt ihm hinterher. Dann versucht er sich im Flügelschlagen: Erst vorsichtig, dann immer wilder. Er probiert einen Start aus – und fällt auf die Nase.) 


MAX: (Rappelt sich hoch) Das ist unheimlich schwer sowas … (Mit einem neuen Startversuch geht er Adrian hinterher.) 




VIERTES BILD


(Straße in Schribbsdorf Auftritt aus der Gegenrichtung: Die Eltern.) 


THERESE: Gottseidank, wir sind ja gleich zuHaus. Ist ja alles noch mal gut gegangen für heut. 


HANS: Du rennst, Therese, du rennst! Wie’n aufgescheuchtes Huhn rennste in der Gegend herum. 


THERESE: Adrian! – Willst du vielleicht, dass ihn einer ankuckt von oben bis unten? 


HANS: Aber, Therese, das alles ist doch’n ungeheurer Witz! (Lacht) 


THERESE: Du und dein Gelächter schon den ganzen Tag. Weil dir sonst nichts einfällt. – Adrian! 


HANS: Der Junge hat sichn Jux mit uns gemacht Aber ja! Du wirst es erleben, wir kommen nach Haus, und er ist wieder ganz der alte Adrian von heute morgen. 


THERESE: Hoffentlich. 


(Auf die Bühne rudert – im Gleitflugversuch – Max. Er strengt sich sehr an, aber es wirkt unbegabt, was er macht.)

 

THERESE: (Fassungslos) Max! (Hans lacht) Hans! 


MAX: (Verbissen ernst) Der Adrian weiß das ganz genau: So was muss man trainieren. Immer wieder, hat er gesagt. Hundertmal! Und dann plötzlich, dann stehste da und bist’n Eins-a-Steinadler. 


THERESE: Du hörst sofort auf damit! Aber sofort! 


HANS: Max, lass doch den Unsinn. Deine Mutter hat heute keinen Nerv für sowas. 


MAX: Von wegen Unsinn. Du hast ja keine Ahnung. Das muss man trainieren! Immer wieder! 


THERESE: Du hörst sofort auf damit! 


MAX: Also, wenn ich dich so abschätze, Mutterherz, so, wie du gebaut bist: 'N Truthahn könnste schon werden. 'N Eins-a-Truthahn sogar. Na, los! (Er schlenkert Thereses Arme hoch.) Hoch mit dem Geflügel! 


THERESE: Ich verbiete dir das! Was fällt dir überhaupt ein! 


MAX: Also, das weiß ich genau: Wenn ich dir nämlich erst mal übern Kopf gesegelt bin, dann kannste mir nämlich überhaupt nichts mehr verbieten. Mit'm Steinadler kannste das nicht mehr machen. 


HANS: Max, so was funktioniert doch überhaupt nicht. Kanns doch gar nicht geben. 


MAX: Wieso denn nicht? Fass ihn doch mal an, den Adrian! Wie gewachsen – so sieht das aus. Und so ist es auch wirklich. Das gibts! 


(Adrian rudert aufdie Bühne. Eleganter Gleitflugversuch.) 


MAX: Na, los! Dann fass ihn doch mal an! 


ADRIAN: Wenn ich jetzt ganz ruhig stehen bleibe, und ihr stört mich nicht, dann hab ich den andern Flügel auch. 


MAX: (Nimmt behutsam Adrians Arm) Na, bitte! Ist doch ziemlich klar zu sehn, wie das hier immer mehr nach Federn aussieht. Oder? 


HANS: Das sieht so aus, wie es immer ausgesehen hat. Und sonst gar nichts. 


THERESE: Wir gehn jetzt nach Hause. Sofort! Alle zusammen!


ADRIAN Ihr müsst mich allein lassen. Ihr stört mich. 


HANS Adrian … was sollen denn die Leute sagen, so, wie du dich da aufführst …


ADRIAN: Den Leuten wird das gefallen. 


HANS: (Hat Adrians Flügel angefasst) Du, Therese … kuck dir das mal an. Wenn das tatsächlich noch so’n Flügel wird auf der andern Seite … und er legt sich richtig gegen den Wind … dann hebt er ab. Steil ab von der Straße und fliegt.


THERESE: Mir ist schlecht. Mir ist richtig schlecht. 


MAX: (Zu Adrian) Ich hab schon trainiert. Ich krieg das schon hin. Und zur Schule fahr ich dann nicht mehr mit dem Bus, sondern: Fluglinie. In drei Minuten wie’n Schuss. Und butterweich aufgesetzt im Schulhof. (Max versucht, das butterweiche Aufsetzen vorzuführen) Das wär die Nummer überhaupt!


THERESE: Hans, ich will, dass das jetzt ein Ende hat. – Hans! 


HANS: Warum schreist du denn so?


THERESE: (Flüsterstimme) Hans … die Katze!


HANS: Ja, und?


THERESE: Müsste … aus der Wohnung.


HANS: Aber, warum denn?


MAX: Katzen fressen doch nur kleine Vögel. Weiß doch jeder. 


THERESE: (Ganz leise) Max …!

HANS: Therese … du glaubst es also auch so’n bisschen. 


THERESE: Wieso denn? Was denn?

 

HANS: Dass es funktionieren könnte? (Deutet das Fliegen an.) 


THERESE: (Ein Schrei) Nein!


MAX: (Zu Adrian) Wenn du’s geschafft hast, fliegste uns dann noch hinterher? Oder machste direkt’n Weitflug bis nach Hawaii? 


ADRIAN: (Dicke Tränen und Wut im Gesicht) Ich will, dass ihr endlich geht! Ihr sollt gehn! Nichts! Ihr versteht nichts! Dass man warten muss. Dass es ruhig sein muss. Ihr sollt gehn! 


THERESE: Wir gehn, und du gehst mit! Ich werd es nämlich nicht zulassen, dass irgendwelche Leute die Köpfe zusammenstecken, wenn sie dich sehn, und dann wird über meinen Sohn hergezogen und getratscht, als wär er ’n Verrückter, 


ADRIAN: Muss man doch nicht hinhören, was die Leute reden. Kann man doch drüber weghören. 


THERESE: Kann man eben nicht. 


ADRIAN: Kann man eben doch! Weil es nicht wichtig ist, was die Leute reden. 


THERESE: Es ist wichtig! – Du willst dich doch wohlfühlen hier bei uns in Schribbsdorf, nicht wahr? Du willst doch, dass die Leute von dir sagen: Der Adrian Mielnickel, na? Ein Prachtjunge! Das soll man doch von dir sagen, nicht wahr? Ein Junge wie alle Jungen hier in der Stadt. 


ADRIAN: Nein. 


THERESE: Doch, das willst du. Eine Mutter weiß das ein bisschen besser als du. Ja, und dann kommste den Leuten auf einmal mit solchen Verrücktheiten. Von wegen: Was Besonderes sein, ganz was anderes, was es überhaupt noch nicht gegeben hat. Adrian Mielnickel – ein Vogel! Und die Leute? Was die auf einmal zu tuscheln haben. Ätsch, der Adrian! Ätsch, wie der aussieht! Wie der sich wichtig tut. Adrian Mielnickel, die Extrawurscht! – Merk dir das eine für alle Mal: Extrawurst – so was mögen die Leute nicht. Auf so was kann eine Mutter nicht stolz sein. 


ADRIAN: Wenn ich ein Vogel bin, und die Leute sehen das, dann wird ihnen das sehr gut gefallen. Und dann flieg ich quer durch die Stadt und immer weiter. Irgendwohin… weit übers Meer … 


HANS: Du kannst doch später mal auf’n Schiff und wirst Matrose. Und kuckst dir die Welt an. Oder sogar Kapitän kannste werden, wenn du tüchtig bist. 


MAX: Also Kapitän ist doch Käse gegen Vogel. Vogel wär für mich das Allergrößte! 


(Max dreht eine Gleitflugrunde. Frau Siebert, im Zuschauerraum angenommen, guckt aus ihrem Fenster im zweiten Stock. Ihr Kanarienvogel pfeift – Tonband links.) 


THERESE: Ist das nicht süß, so‘n Vögelchen? Hans, kuck doch mal hoch! Die Frau Siebert hat ihn extra für uns ans Fenster gestellt! 


HANS: Tag, Frau Siebert! (Er trällert dem Vogel etwas vor.)


THERESE: Tja, am Sonntagnachmittag, was soll man da schon machen? Die Familie ist ein bisschen unterwegs, und die Kinder toben sich aus! 


MAX: Der Adrian wird auch’n Vogel, Frau Siebert! Und ich auch! Und dann flieg ich mindestens bis nach Hawaii, wo sie alle nackt sind und schwarz. Und dann werd ich Häuptling, und dann kann ich alles befehlen, was ich will! 


HANS: Die Kinder, nicht wahr? Einfälle haben die, da kommt unsereins überhaupt nicht mehr mit. – Tagchen, Frau Kirsch! 


THERESE: (Leise) Jetzt ist es passiert Jetzt hocken sie alle am Fenster. – Tagchen! 


(Hans pfeift Frau Sieberts Kanarienvogel wieder etwas vor; der Vogel trällert es nach) 


THERESE: Na, also, so was! Das ist ja’n richtiger kleiner Künstler, wie der so was nachpfeift! 


MAX: Frau Siebert, ganz bestimmt, wenn der Adrian ein Vogel ist, fliegt er hier bei Ihnen vorbei. 


(Adrian macht Flugversuche in großen Kreisen. Die Leute an den Fenstern tuscheln und kichern – vom Tonband links und rechts.) 


THERESE: Tagchen, Her Becker! Tja, die Kinder, wenn die sich was in den Kopf gesetzt haben, da weiß man gar nicht, was man davon halten soll. (Sie lacht) 


MAX: Herr Becker, wenn Sie das mal gesehen haben bei dem Adrian, wie das richtig gewachsen ist, und wenn man eine Feder rausreißt, dann spritzt es richtig Blut! Meiner Mutter ist sogar schlecht geworden, als sie das gesehn hat. Und die Frau Krüger hats auch gesehn! 


(Adrian hält den Kopf schräg und unterhält sich mit dem Kanarienvogel Sie pfeifen einander wichtige Dinge zu. Und dann lacht Adrian laut.) 


MAX: (Zu Adrian) Was hat er denn gesagt, der Kanari? 


ADRIAN: Er hätt’n ganz blöden Namen, der ihm nicht gefällt: Schippchen! 


MAX: Schippchen? So was ist doch kein Name fürn Vogel, Frau Siebert! 


(Frau Siebert schlägt das Fenster zu. Die Leute an den Fenstern tuscheln.) 


THERESE: Frau Siebert… einfach das Fenster zugeschlagen. (Zu Adrian) So eine Ungezogenheit von dir. (Zu den Leuten) Der Adrian ist schon seit Tagen durcheinander. Vielleicht eine Krankheit, und wir wissen’s noch gar nicht Er redet manchmal drauflos ohne Sinn und Verstand. 


(Adrian stampft mit dem Fuß auf und dann läuft er davon.) 


THERESE: Adrian! 


MAX: Der ist erst mal getürmt Weil er nämlich überhaupt nicht durcheinander ist. Das seh ich doch ganz klar. Wetten? Der Kanari von der Frau Siebert heißt nämlich wirklich so! – Herr Becker, der Kanari von der Frau Siebert, heißt der Schippchen? – Na, bitte, der Herr Becker hat genickt 


THERESE: Aha … 


MAX: Weil der Adrian nämlich versteht, was’n Vogel redet! 


HANS: (Durch die Zähne) Jetzt hab ich aber genug! Jetzt aber: Ab nach Hause! – Tschüsschen, Herr Becker! Bisschen Spaß muss ja immer mal sein. Tschüsschen! 


THERESE: Hans … wenn der Junge sich was antut, und er springt irgendwo von der Brücke … weil er meint, dass er fliegt, wenn er da runterspringt! So was … liest man doch jeden Tag in der Zeitung! 


HANS Der hat doch Grips im Kopf …


MAX Der ist getürmt, weil ihr zu blöd seid und nix glauben könnt 


HANS Darüber reden wir mal, wenn wir zu Hause sind.


THERESE: Wo ist er denn hingelaufen?


HANS: Der kommt schon nach, verlass dich drauf. 


MAX: Wenn es den Herrschaften recht ist, flieg ich schon mal vorneweg! (Er trudelt im Flugversuch von der Bühne. Die Eltern hinterher.) 




FÜNFTES BILD

 

(Wohnzimmer hei Mielnickels. Während das Bühnenbild sich verwandelt, wird über Tonband eine Treppenhausszene eingespielt: Geräusche und Stimmen links und rechts.) 


THERESE: Füße abtreten!


HANS: Füße abtreten, Max!


THERESE: Das Treppenhaus ist frisch geputzt. 


HANS: Das Treppenhaus ist frisch geputzt. 


MAX: (Äfft es nach) Das Treppenhaus ist frisch geputzt. 


(Eine Pause. Nur Geräusche.) 


THERESE: Wir hätten den Adrian nicht einfach auf der Straße stehen lassen sollen. 


MAX: Der fliegt uns schon hinterher. 


THERESE: Max! – Wenn ich dran denke, dass ihm was passiert. Wenn er sich irgendwo aus’m Fenster stürzt. Ich mach mir Sorgen … 


HANS: Der Junge hat doch Grips im Kopf. Du wirst es erleben, der kommt nach Haus und ist wieder ganz der alte Adrian von heute morgen. 


MAX: Fand ich aber blöd. 


THERESE: Max! Der Adrian ist dein Bruder! 


MAX: Na, ja, 'n Bruder, der fliegt, das ist doch Weltklasse! Ich krieg das einfach nicht hin. Irgendwas hab ich falsch gemacht. 


(Vom Tonband: Schlüsselklappem und Türöffnen. Max «fliegt» ins Wohnzimmer, stolpert und liegt auf der Nase.) 


MAX: Ich krieg das einfach nicht hin. (Rappelt sich hoch) Dann eben nicht. – Und schon wieder ist der Max Mielnickel am Ball, meine verehrten Zuhörer … 


(Auftritt: Hans und Therese.) 


HANS: Gott sei Dank, endlich zu Hause. 


THERESE: Nein, Max! Nein, das dulde ich nicht! Du kannst nicht einfach Tisch und Stühle aus dem Zimmer räumen, nur weil du hier Fußball spielen willst Hopp!


MAX: Wie soll man denn hier Fußball spielen, wenn da'n Tisch steht? 


THERESE: Max! (Hans lacht) Hans! 


HANS: Therese, bitte! Bitte, reg dich nicht schon wieder auf! 


THERESE: Der Adrian … wo der nur so lange bleibt? 


HANS: Ich weiß es nicht. 


THERESE: Tja … ich geh dann mal in die Küche und mach'n Kaffee. 


(Therese ab. – Max räumt die bereitstehenden Stühle und den kleinen Tisch ins Wohnzimmer.) 


MAX: Wenn der Adrian jetzt’n Vogel ist, was kriegt er denn da zu fressen? Wir haben ja gar nichts im Haus für Vögel. 


HANS: (Lässt sich auf einen Stuhl fallen) Sag mal, du hast die allerbeste Laune! Was da auf uns zukommen kann … die Probleme … zum Beispiel, der Adrian: Wie … wie geht der aufs Klo? 


MAX: Na, im Park. (Demonstriert das.)


HANS: Und wie soll man den Leuten sowas erklären? 


MAX: Ist doch sein Problem. 


HANS: Sag mal, du machst dir’n Vergnügen daraus. 


MAX: Na, klar, wennde nix dagegen hast. 


HANS: (Fährt hoch) Ich habe etwas dagegen! 


(In der Küche kreischt Therese. Und schreckensbleich wankt sie ins Wohnzimmer. Hans sitzt wieder.) 


THERESE: In der Küche … am Fenster … am Küchenfenster … er hat mich angekuckt… und gelacht hat er … 


MAX: (Begeistert) Der Adrian? 


HANS: Am Küchenfenster? Im fünften Stock? 


THERESE: (Lässt sich auf den anderen Stuhl fallen) Ich mach das Fenster nicht auf. Soll er doch die Treppe raufkommen. 


(Vom Tonband: Heftiges Klopfen an eine Fensterscheibe – Lautsprecher links.) 


HANS: (Erhebt sich mühsam) Ich … ich werd’ das Fenster öffnen. 


THERESE: Hans! 


HANS: Ja, oder … soll ich das Fenster vielleicht doch nicht öffnen? 


MAX: Ich geh schon, ihr Feiglinge. (Er geht in die Küche. Das Klopfen hört auf) 


THERESE: Hörst dus? Nichts mehr.


HANS: Du meinst, er ist weg? Weggeflogen? Vielleicht … fliegt er noch’n bisschen in der Stadt herum. … Und wenn er nicht mehr wiederkommt? 


THERESE: Wir … wir müssten uns damit abfinden, Hans. Schließlich: Ein Vogel in der Familie … so was geht nicht gut. 


MAX: (Ruft aus der Küche) Nichts zu sehn!


THERESE: Wir werden uns damit abfinden, Hans. Und vielleicht ist es ja auch besser so. Für den … den Vogel und auch für uns, nicht wahr? 


(Vom Tonband: Heftiges Klopfen an eine andere Fensterscheibe – Lautsprecher rechts.) 


THERESE: Im Schlafzimmer… hörst du’s? Am Schlafzimmerfenster. Hans! 


HANS: (Erhebt sich mühsam) Ja … man muss den Jungen doch hereinlassen 


THERESE: Ja … das muss man… (Hans sinkt wieder auf den Stuhl) Hans! Du musst ihn unbedingt hereinlassen! Sofort! Wenn die Leute ihn sehn, wie er da herumgeistert … Hans, sitz doch nicht so da, tu doch was! 


(Hans wankt ins Schlafzimmer. Max kommt aus der Küche.) 


MAX: (Enttäuscht) Keine Amsel am Fenster und kein Specht. 


(Auftritt aus dem Schlafzimmer: Adrian. In großen Kreisen kommt er auf die Bühne geflogen. Der Darsteller der Rolle spielt Fliegen. Er hat sich nicht als Vogel verkleidet; keine Krallenfüße, kein Schnabel, kein Schwanz. Aus seinen Armen sind große, rote Flügel geworden, Spannweite gut drei Meter – Federn aus Nesselstoff auf Peddigrohr geklebt liegen wunderbar im Wind, und die Illusion «Fliegen» ist sofort da. – Hinter Adrian wankt Hans ins Wohnzimmer.) 


ADRIAN: (Jubelnd) Es sollte eine Überraschung für euch sein! Ich hätte natürlich auch die Treppen hochüpfen können! Aber es sollte eine Überraschung sein! Und deshalb bin ich zum ersten Mal in meinem Leben hoch hinauf in den fünften Stock geflogen! Und es war schön! (Er steht jetzt, die Flügel ausgebreitet, auf dem Tisch.) 


MAX: Mensch, Adrian! Du bist jan tolles Tier! 


HANS: (Hat etwas gehört) Seid mal still…! (Er stürzt ins Schlafzimmer) Herr Röder … was ist los? 


THERESE: Der Röder von gegenüber! Ob der was gesehen hat? 


HANS: (Hinter der Bühne) Die Feuerwehr? Aber warum denn? … Dann müsste ja der … der Vogel… müsst er sich ja in der guten Stube eingenistethaben! (Lacht) 


THERESE: Hans! Hans! 


HANS: Hatter aber nicht!… Die Feuerwehr? Nein! Bei uns logiert kein Vogel! Guten Tag! 


(Adrian ist empört.) 


MAX: Glatt gelogen. 


THERESE: Merkt euch das: Euer Vater lügt nicht! Und wenn er lügt … dann hat er trotzdem nicht gelogen. (Ab ins Schlafzimmer) 


MAX: Jetzt redense schon Blech. Schlechtes Gewissen.


ADRIAN: So eine Gemeinheit! «Bei uns logiert kein Vogel!» Das hätt ich ihm nie zugetraut! (Setzt sich auf den Tisch.) Warum sagt er denn so was? 


MAX: Stell dir doch mal vor, der alte Vater Mielnickel hätte gesagt: Na, klar, der Vogel ist nach Haus’ gekommen. Was dagegen? – Der Röder hätt’ doch glatt die Feuerwehr geholt. 


ADRIAN: Und? Was hätte die Feuerwehr gesagt? 


MAX: Tatütata und ab in 'n Zoo. 


ADRIAN: Ab in'n Zoo, ab in'n Zoo! Ich will aber nicht ab in'n Zoo! Ich will, dass die Leute mich keimenlernen, so, wie ich jetzt bin. Und deshalb flieg ich jetzt quer durch die Stadt. Und herunterrufen werd ichs auf die Köpfe der Leute: Adrian Mielnickel, Südstraße 14, fünfter Stock! Jeder solls hören. Ich will, dass die Leute mich kennenlernen! (Erfliegt durchs Küchenfenster davon.) 


MAX: Den Start, den kuck ich mir an! (Er rennt Adrian hinterher.) 


THERESE: (Kommt aus dem Schlafzimmer) Hans, jetzt komm doch hinter der Gardine weg! – Max … Adrian? 


(Hans kommt aus dem Schlafzimmer.)


MAX: (Hinter der Bühne) Wie der fliiiiiegt! Wie der fliiiiiegt! 


THERESE: Er fliegt.


HANS: (Begeistert) Therese! Er fliegt! 


(Hans will ans Küchenfenster stürzen – Max rennt ihm mit Indianergeheul entgegen.) 


MAX: Um so’n Bruder beneidet mich die ganze Klasse! Der fliegt jetzt 'ne Runde ums Haus! Speziell für die Familie! Los! Ans Fenster! (Er rennt ins Schlafzimmer. Hans will hinterher.) 


THERESE: Hans! … Wir … wir kennen ihn nicht mehr. (Und schluchzend läuft sie in die Küche.) 


(Hans zögert einen Augenblick, dann rennt er Max hinterher. – Vom Tonband: Bravorufe und Klatschen auf der Straße. – Therese kommt mit Kaffeegeschirr aus der Küche. Sie hat geweint. Sie setzt sich an den Tisch und gießt Kaffee ein. – Hans kommt aus dem Schlafzimmer und macht Flugversuche. Beim Senkrechtstartversuch stolpert er. Therese schreckt auf.) 


THERESE: Hans …? 


HANS: (Geniert sich ein bisschen. Aber dann geht er «im Sturzflug» auf Therese los. Therese kreischt.) Der Max ist runter auf die Straße. (Eine Pause) Ich würd’ auch gern runter und mir das ansehn. 


THERESE: Es gut so, dass du hier bist. 


(Vom Tonband: Heftiges Klopfen ans Schlafzimmerfenster. Hans und Therese: sekundenlang atemlose Spannung.) 


HANS: Er ist wieder da …! 


(Eine Pause. Dann vom Tonband: Klopfen ans Küchenfenster. Nach ein paar Sekunden zersplittert das Fenster. Hans fährt vom Stuhl auf.) 


THERESE: Du gehst nicht! 


HANS: Durchs Küchenfenster … er ist wieder da … vielleicht hat er sich verletzt… müssen wir ihm nicht helfen …? 


THERESE: (stark) Wir können ihm nicht helfen!

 

HANS: Aber du kannst doch nicht so ganz ohne ein Mitleid sein wollen und Gefühl für den Jungen! 


THERESE: Jungen? Dieser … dieser Junge, wie du ihn immer noch nennst, er hat seine Familie zum Gespött der ganzen Stadt gemacht! «Wollten ja schon immer hoch hinaus, die Mielnickels, gell! Gell, und da hamse nun die Bescherung mit dem Vieh!» – Mit dem Finger wird man auf uns zeigen: «Da, die Mielnickels, und ihr kleiner hässlicher Vogel in der Mitte!»

 

HANS: Hätt ich ihn denn hindern können? 


THERESE: Du hättst ihn hindern müssen! 


HANS: Ach, das ist doch Unsinn! Das ist ihm im Kopf herumgegangen, und dann wars auch schon geschehn! Ja, so ist das mit den Kindern überall auf der Welt: Es geht ihnen was im Kopf herum, und uns Eltern wirds dann vorgesetzt. Wien Teller Suppe. Bitteschön. Und dann sitzte halt da und musst es auslöfffeln. 


THERESE: Und damit ist für dich die Sache erledigt. 


HANS: Ja. Ändern kann ichs doch nicht mehr. Was soll ich denn machen? 


THERESE: Rauswerfen … wirf ihn raus. 


HANS: Therese! 


THERESE: Wer sich derart ein anderes Gesicht aufsetzt, der hat in unserer Familie keinen Platz mehr. Der ist hier fremd. 


HANS: Therese! 


THERESE: (Lenkt ein) Der muss sich erst mal überlegen, wie er das wieder gutmachen kann. 


ADRIAN: (Kommt aus der Küche) Die Leute in der Stadt haben mir zu geklatscht! Bravo, bravo! 


THERESE: Hans, du weißt, was du zu tun hast. 


HANS: Nichts. Gar nichts. Ich weiß überhaupt nichts mehr. 


ADRIAN: (Wie ein ganz normaler Junge) Regt ihr euch wegen der Fensterscheibe auf? Die kann ich doch von meinem Taschengeld bezahlen. – Linsen oder Erbsen? So was haben wir nicht im Haus? In der Küche hab ich nichts gefunden. 


HANS: Er hat Hunger. 


ADRIAN: Ja. Oder Reis? Wir haben doch noch Reis im Haus. – Oder’n Wurm? 


(Hans ekelt sich sehr Mit sehr viel Geräusch.)


THERESE: (Muss mehrmals schlucken) Dann muss er sich sein Futter halt im Wald zusammensuchen, wie die andern Vögel auch. (Sie räumt denTisch ab.) 


HANS: Therese … wir haben doch noch’n Hering in der Küche. 


ADRIAN: Hmmmmm! 


THERESE: Er verschwindet! (Zu Adrian) Du suchst dir, was weiß ich, suchst dir’n Baum und hockst dich da hinauf! Und dort haste dann Blätter, und darauf kannste herumbeißen. Sie trägt das Geschirr in die Küche.) Und jetzt ab durchs Fenster! 


HANS: (Ruft Therese hinterher) Aber, Therese … er ist doch hier zu Hause! 


THERESE: (Kommt aus der Küche zurück) Nein! Nicht mehr! Der da … wie er da jetzt herumsteht … so einer hockt auf einem dicken Ast! Im Wald! 


HANS: (Fährt vom Stuhl auf) Therese! 


THERESE: (Ganz stark) Einen Vogel habe ich nämlich nicht großgezogen! 


(Regiebemerkung: Therese lehnt Adrian ab, weil er ihr fremd geworden ist – aber ebenso stark liebt sie ihn auch. Sie antivortet hart, weil sie verwundet ist; aber indem sie Adrian herausfordert, kämpft sie um ihn.) 


ADRIAN: Aber ich muss ein Vogel sein. 


THERESE: Muss? Soll man dir eine runterhauen? Muss?

 

ADRIAN: Ich hab’ es mir gewünscht, und ich habe mich darauf vorbereitet. Und es ist schön. Und ich fliege überall hin, wo ich will. 


THERESE: Hans! Sag doch was!


HANS: (Hilflos) Adrian … die Leute in der Stadt … 


ADRIAN: Die Leute haben mir zugeklatscht: Bravo, bravo! 


HANS: Ich kann ihm da nichts erklär’n. 


THERESE: Dann erklär ichs ihm. Du bist nämlich nicht mehr ein Mielnickel, den man kennt, und mit dem man gern zusammensteht. So. Da haste deine Erklärung. Ein Fremder – das bist du jetzt. Und was so einer will, und was so einer tut … das versteht man eben nicht. 


ADRIAN: Das versteht man nicht? Ich will aber, dass man das versteht! (Macht groß die Flügel auf.) 


THERESE: Weg! Weg! Kusch! Geh mir vom Leib! – Hans! Geradezu un heimlich, wenn der so die Flügel aufmacht! 


ADRIAN: Und ich will, und ich will, und ich will, dass man das versteht! 


(Hans und Therese haben sich die Stühle gegriffen, die sie jetzt wie Domteure benutzen. Adrian ist auf den Tisch gesprungen.) 


HANS: Kusch, Adrian! Kusch! An deinen Platz! 


ADRIAN: (Sachlich) Wie redet ihr denn mit mir? ich bin doch kein Hund! 


THERESE: (Hält ihren Stuhl hoch und verbirgt sich dahinter) Kusch! Wir reden mit dir, wie man mit einem Vogel redet. Kusch! – Hans, der ist ja gefährlich geradezu! 


ADRIAN: (Äfft Therese nach) Gefährlich geradezu! – Ja, das will ich jetzt auch sein! Gefährlich! Damit man mich wieder versteht, Frau Mielnickel! (Die Wut macht ihn jetzt hässlich.) Nämlich: Was war denn das für einer, euer Adrian! Immer und immer war das doch euer guter Junge, und den habt ihr herumgezeigt, wie man ein Auto herumzeigt! «Kuckense mal, das ist er, der Adrian. Und aus dem wird mal durch und durch ein waschechter Mielnickel, aber gewiss doch! Ein Mielnickel wie alle Mielnickels! Das sieht man doch. Der hat die Nase und die Ohren und die Plattfüße: Alles garantiert waschecht und Mielnickel! (Äfft das Ge lächter seines Vaters nach.) Das habt ihr doch von eurem guten Adrian immer gesagt! Und das war für euern guten Adrian immer wie eine Krankheit! Dass er einer werden sollte, den es schon hundertmal gegeben hat in der Stadt! Aber so eier kann der Adrian gar nicht werden! (Und jetzt nicht mehr laut, aber sehr eindringlich.) Weil er nämlich eines Tages gespürt hat. dass er ein Vogel sein muss. Und so steht er jetzt da. Und nun will er, was ein Vogel will. Und nun tut er, was ein Vogel tut. Zum Beispiel: Mit den Flügeln schlagen. Und das ist schön. 


THERESE: (Ganz klein hinter ihrem Stuhl) Man muss den Tierschutzverein anrufen. Die haben Netze. Die können ihn einfangen. 


HANS: (Möchte losheulen wie ein Kind) Aber das alles ist doch Unsinn. Adrian, stimmts! Du hast dirn tollen Jux mit uns gemacht. Du hast dich mal so richtig austoben wollen. Das ist ja ganz in Ordnung. Kinder müssen das manchmal tun. Aber morgen … nicht wahr … morgen hat sich der Adrian Mielnickel wieder daran erinnert, wer er ist! Und wo er hingehört! So … und jetzt zieh doch das … das Geflatter da aus! 


(Vom Tonband: Die Stimme von Max, der auf der Straße steht.) 


MAX: Aaaaadriaaaaan! Ans Feeeeenster! Du sollst kooooommen! 


ADRIAN: Maaaaax, ich kooooomme!


THERESE: Kusch! Da bleibst du stehn!


MAX: Aaaaadriaaaaan!


ADRIAN: Ich kooooomme! (Durchs Küchenfensterfliegt er davon.) 


(Therese schlägt die Hände vors Gesicht und rennt ins Schlafzimmer – Hans rennt ans Küchenfenster. Für einen Augenblick bleibt die Bühne leer. Vom Tonband: Bravorufe und Klatschen auf der Straße.) 


HANS: (Brüllt hinter der Bühne) Max! Junge! Halt dich fest! (Stürzt auf die Bühne Richtung Schlafzimmer.) Therese! Der Max! Der Max auf dem Rücken vom Adrian! (Rennt zurück ans Küchenfenster.) Max, Junge! Jungeeeee! 


(Therese und Hans kommen gleichzeitig auf die Bühne.) 


THERESE: Um Gotteswillen, Hans … was hast du gesagt? 


HANS: Da staunt sie, die Therese Mielnickel, was? 


(Mit Indianergeheul poltert Max auf die Bühne – er kommt aus der Küche.) 


THERESE: (Als sähe sie ein Gespenst) Max …! 


HANS: (Ganz und gar begeistert) Der Max! Hochgeflogen! Auf dem Rücken vom Adrian! 


MAX: Kuck mal, wie sie kuckt, meine Mutter! Ja, der Adrian, der hat mich hochkutschiert. Direktflug! Und alle habens gesehn! Meine ganze Klas se! Und die Mäuler haben sie nicht zugekriegt! Bauklötze gestaunt wie im Kino! Das ist die Wucht überhaupt, der Adrian! – So, wir packen jetzt maln bisschen zusammen: 'N Sack voll Körner und drei bis vier Butterbrote für mich – und dann: Ssssst! Abflug! 


THERESE: Max Mielnickel! 


MAX: (Etwas kleinlaut) Ja. Wir fliegen weg. 


HANS: Ja! Bravo! 


THERESE: (Wie eine Furie) Hans! (Und liebevoll zu Max) Max, was ist denn mit deinem gesunden Menschenverstand? Deine Fußballpläne! Denk doch mal an deine Fußballerei, mit der du deinen Eltern so viel Freude machst. 


MAX: Fußball … pfeif doch auf den Fußball! 


(Vorn Tonband: Anfahrende Feuerwehr mit Sirene.) 


THERESE: Der Röder von gegenüber! Jetzt hat er die Feuerwehr gerufen! 


ADRIAN: (Fegt auf die Bühne) Die kriegen mich nicht! 


MAX: Mensch, Adrian, denen zeigst du mal dein Programm! Den Sturzflug, wie du das machst! (Er führt Adrian in eine Sturzflugbewegung.) Und den Gleitflug! (Aus der Sturzflugbewegung führt er ihn in die Gleitflugbewegung.)


ADRIAN: Und die Schraube! (Er dreht die Flügel) 


MAX: Das ist überhaupt das Größte, die Schraube! Und du setzt mich unten mal ab, und ich red mit der Feuerwehr ’n paar Sprüche, dass sie dich nämlich gar nicht kriegen können, wenn’se nicht mindestens 'n Hubschrauber hier einsetzen! 


THERESE: (Hilflos) Max …


MAX: Du und ich, wir beide sprechen uns später. Aber schmier schon mal die Butterbrote! – Abflug! 


(Adrian und Max: Ab durchs Küchenfenster.) 


THERESE: (Ist auf einen Stuhl gesunken) Hans … 


HANS: (Verrückt vor Begeisterung) Therese! Deine Kinder! Der Max und der Adrian… und alle beide ist das… dass du staunst! (Brüllt) Therese! Komm doch kucken! (Er rennt ans Küchenfenster – dann brüllt er.) Thereeeeese! (Hans kommt zurück auf die Bühne, und demonstriert das Folgende ganz sachlich.) Therese, der Gleitflug, der sieht bei ihm so aus: Sanft – und die Flügel wie zwei Fahnen. (Führt es vor.) Gleitflug. Und den macht er jetzt ums Haus. (Brüllt) Komm doch kucken! (Ab ins Schlafzimmer.) Thereeeeese! (Zurück auf die Bühne.) Und der Sturzflug, der sieht bei ihm so aus: Den Kopf ganz klein, und die Flügel an die Beine gedrückt. (Führt es vor.) Therese, komm doch kucken! (Ab in die Küche.) Thereeeeese! (Zurück auf die Bühne.) Und die Schraube: Das ist hoch hinauf mit dem Kopf und geturtelt und gedreht wie in der Mischmaschine. (Führt es vor.) Wie in der Mischmaschine! Wie in der Mischmaschine! (Hans stolpert, fällt hin und schnappt nach Luft) 


(Max kommt aus der Küche.) 


MAX: So, Frau MielnickeL Der Adrian hat mich schon mal abgesetzt Der kommt gleich nach. So. Jetzt hab ich hier mal’ne Frage zu stellen: Warum kann ich nicht auch ein Vogel sein? Das will ich wissen. 


HANS: Kannst du das denn nicht? 


MAX: Kannst du’s denn? (Hans versucht eine Flugbewegung – es sieht kläglich aus.) Kuck dich doch mal an! – Nur der Adrian kanns. Warum nicht ich? Was habt ihr bloß an mir herumgebastelt dass ich Fußballspielen – ja! Sprüchekloppen – ja! Aber Vogel werden – Essig! Kann ich nicht werden! Warum nicht?


HANS: Max … ich weiß es nicht. (Lässt sich auf einen Stuhl fallen.) 


THERESE: (Nimmt Max an der Hand) Max, du bist ein ganz und gar gesunder Junge, der ganz und gar das Richtige gelernt hat …

 

MAX: Ganz und gar, ganz und gar! Was soll denn das heißen: Ganz und gar? Ganz und gar’n Vogel werden kann ich nämlich nicht! Ich habs versucht… (Er versucht zu fliegen, springt auf den Tisch und lässt mutlos die Arme sinken.) Nix. Und ihr! Ihr habt mich do so eingerichtet, wie ich bin. Und dafür möcht ich jetzt mit der Faust auf’n Tisch schlagen! (Hebt die Faust – und stampft dann mit dem Fuß auf.) 


THERESE: Max! 


MAX: (Wischt sich Tränen aus dem Gesicht und steigt vom Tisch herunter) Hast du die Butterbrote geschmiert? 


THERESE: Was sind denn das für Töne, Max Mielnickel?


MAX: (Verzweifelt) Das sind Töne! Glockentöne! Ich will mich hier beschwern! (Er trommelt mit den Fäusten auf den Tisch.) 


HANS: Max… 


MAX: Du … Du bist mir auch son Stofftier! Immer dem Max ins Ohr gefaselt: Junge, der Fußball, das ist deine Welt und so’n Quatsch. 


HANS: Der Fußball … das ist deine Welt! 


MAX: Ja, denkste. Hefeteilchen. Jetzt hab ich nämlich in die andere Welt gekuckt. (Tränen) Und ich kann nicht einsteigen. Krieg die Tür nicht auf. Ihr … ihr habt mich irgendwie geleimt! 


ADRIAN: (Hinter der Bühne) Max! (Kommt auf die Bühne.) Komm! Wir fliegen weg! Irgendwohin! 


MAX: Heiliger Bimbam, wenigstens das: Wir fliegen weg! 


(Max und Adrian wollen gehen. Therese schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt. Die Jungen treten auf der Stelle.) 


THERESE: Ihr wollt also die beiden Alten … so, wie sie da jetzt herumsitzen … wollt uns also allein lassen. Als hätt man euch nicht aufgezogen wie zwei Könige. Irgendwohin. Wo kein Mensch für euch da sein wird … Max, und du erinnerst dich überhaupt nicht … an nichts … wie du das so gut kannst? Ja! Ja! Und schon wieder ist der Max Mielnickel am Ball, meine verehrten Zuhörer … Hans! Sag doch auch maln Ton! 


MAX: Hör auf! (Therese schluchzt) Hör auf! (Schluchzer) Du sollst aufhörn! 


THERESE: Hans …! 


HANS: (Findet zunächst keine Worte und redet mit den Händen – und nur mühsam bringt er dann die Worte heraus) Und … wieder spielt er den Gegner aus … wuchtet den Ball am Gegner vorbei über die Mittellinie … kraftvoll! Voller Kraft!


THERESE: Fußballkaiser Max Mielnickel! 


MAX: Das ist gemein! So eine Gemeinheit! 


THERESE: Wen soll er anspielen? – Hans! 


HANS: Wen soll er anspielen? Wo soll er hinspielen? Keiner seiner Kameraden ist mit ihm nach vorn gelaufen! 


THERESE: Und der Gegner? Na, Max? 


MAX: Bedrängt ihn hart, verdammtnochmal! 


THERESE: Und der Gegner bedrängt ihn hart! Und was macht er der Max Mielnickel? 


HANS: Ja! Ja! 


MAX: Er zögert keinen Augenblick … 


THERESE: Keinen Augenblick! 


ADRIAN: (Kämpft um Max) Weit übers Meer, Max! 


MAX: Über eins, zwei, drei gegnerische Köpfe hinweg … 


ADRIAN: Flieg doch mit! Bitte! 


HANS und THERESE: Uber eins, zwei, drei gegnerische Köpfe hinweg … 


ADRIAN: Warum denn! Er kann es lernen! In zwei Tagen ist er ein riesenroter Vogel! Er kann es lernen! 


THERESE: Du kannst es! Der Max kann seine Sache! 


MAX: Uber eins, zwei, drei gegnerische Köpfe hinweg knallt er das Leder ins lange Eck! (Er fegt durchs Wohnzimmer.) Tooooor! (Max steht auf dem Tisch.) Max Mielnickel schießt in der dreiundzwanzigsten Minute das entscheidende Tor! Bravo! Das Stadion rast! Bravooooo! Mensch, das ist Klasse! 


THERESE: Gratuliere, mein Junge, das ist die Welt, in der du dich auskennst. 


ADRIAN: Er hätte es lernen können. 


MAX: (Geht auf Adrian los) Ach, du! Den Mund haste mir wässrig gemacht: Fliegen und so’n Quatsch! Was sowieso kein Mensch schafft! – Kannste überhaupt Fußball spielen? Den einfachsten Trick mit der Hacke, den kriegste doch überhaupt nicht hin, so, wie du gebaut bist. Du hässlicher Piepmatz. 


ADRIAN: Ja. Und der hässliche Piepmatz, der fliegt jetzt weg. 


MAX: Na, dann guten Flug. (Er geht fußballspielend ab in die Küche.) Tooooor! 


HANS: Adrian…ich meine…nimmst’e mich mal mit? Ich meine … darf ich mal mitfliegen? Eine Runde? 


THERESE: Hans! 


HANS: Hans, Hans! Ja, was denn, Hans! Ich möchts halt mal erleben. 


ADRIAN: Aber, ja! Wir fliegen quer durch die Stadt! Und du wirst es hören, die Leute, wie sie rufen und die Arme hochwerfen, und wie sie dich alle ein bisschen beneiden! 


THERESE: (Ist aufgestanden) Wenn du das tust, Hans, bin ich hier nicht mehr zu Hause! 


HANS: (Wie ein kleiner Junge) Schade. Ich hätts halt gern mal erlebt. 


ADRIAN: Hör doch nicht hin! Du setzt dich auf meinen Rücken, und wir trudeln los! Wir trudeln über den Marktplatz, juhu! Und fegen über alle Dächer hoch hinaus mit den Schwalben um die Wette irgendwohin in ein Land: ganz unbekannt und neu! 


THERESE: Unbekannte Länder! So was gibts doch überhaupt nicht mehr. 


HANS: Oh, Therese – für Kinder? Für Kinder gibts das immer! Du, ich als Junge. Aufm Kirschbaum! (Steigt auf einen Stuhl.) Du, dort oben saß ich, und ich hab mir gedacht: Ich kann in die Sonne spucken! Und davon fliegen kann ich! – Für Kinder gibt es immer ein Land, das noch kein Mensch kennt. 


THERESE: (Liebevoll) Hans, du bist doch kein Kind mehr. 


HANS: (Steigt vom Stuhl herunter) Nee. 'N alter Esel bin ich vielleicht. Und davonfliegen kann vielleicht nicht jeder. Aber … Therese! Adrian! Spielen! Spielen könnten wir doch das Land! Bbbbbb! Und das Flugzeug bis dorthin! 


THERESE: Na, ja, spielen kann man so was vielleicht …

 

HANS: Therese, steh mal vom Stuhl auf! Wir spielen jetzt das Land – und das Flugzeug bis dorthin! Und heute Nacht, Therese, mach ich mir’n tollen Traum daraus! 


(Aus Tisch und Stühlen baut Hans im Handumdrehen ein Flugzeug – und zwar so: Den Tisch dreht er um – die Pilotenkanzel; dahinter stellt er die Stühle. Die Sitzordnung wird so aussehen: Hans vorn in der Kanzel, dahinter Therese auf einem Stuhl, hinter Therese steht Max, und hinter Max, auf dem zweiten Stuhl wird Adrian stehen.) 


HANS: (Brüllt begeistert) Laaaaand! Unter uns das neue Laaaaand! Wir haben es entdeckt! (Er rennt in die Küche.) 


ADRIAN: Wir spielen es. Das ist schön. Und es wird euch dort gefallen. Und dann fliegen wir wirklich hin: Die ganze Familie. 


(Hans kommt mit Schrubber und Besen zurück, die er links und rechts an seinem Stuhl festmacht: die Tragflächen.) 


HANS: Therese, steig ein! Unser Flugzeug! Steig ein! Copilotin, Frau Therese Mielnickel! 


THERESE: (Setzt sich auf ihren Stuhl) Na, ja, spielen kann man so was, und ganz bestimmt kannst du auch davon träumen. Aber damit ist es dann fürn einfachen Menschen genug. 


HANS: Adrian, steig ein!

(Adrian stellt sich auf seinen Stuhl, Hans setzt sich zwischen die Tischbeine. Das Flugzeug startet.) 


HANS: Bbbbb! Bbbbbb! Bbbbbbbbbbb! 


(Auftritt Max aus der Küche.) 


MAX: Und schon wieder ist der Max Mielnickel am Ball, meine verehrten Zuhörer … was solln das sein, wenns fertig ist? 


HANS: Unser Flugzeug! Bbbbbb! 


MAX: Kann man da noch einsteigen? 


HANS: Steig ein! Bbbbbb! 


MAX: Halt! Halt! Erst wirft Max Mielnickel den Propeller an! (Er wirft mit viel Geräusch den Propeller an, dann stellt er sich hinter Therese, und das Flugzeug startet wieder.) 


ALLE: Bbbbbb! Bbbbbb! Bbbbbbbbbbb! 


MAX: Rätter, ratter! Das ist ja Spitzenhonig! Max Mielnickel im Flugzeug über der Prärie! Peng, peng! Und schon löst sich ein Schuss wie im Fernsehn! Und treibt die Büffelherde auseinander! Max Mielnickel im Tiefflug über der Prärie! (Alle neigen sich im Tiefflug nach links.) Peng, peng! Und hat ihn erwischt, den Büffel! Und jetzt liegt er da, wien um gestürzter Bagger! Und schon wiedern Büffel! (Alle neigen sich im Tief flug nach rechts.) Peng, peng! Wie im Fernsehn! 


THERESE: (Löst die Bewegung auf) Lass dir doch mal was einfallen, Max, das es im Fernsehen noch nicht gegeben hat!


HANS: Jeder soll sagen, was er zuerst tun wird, wenn wir gelandet sind. Ich baue ein Haus!


THERESE: Und ich helf dir dabei! Und eine Wäscheleine musst du spannen von unserem Haus bis hinüber in den Wald! Für siebentausend Unterhosen, so lang!

 

MAX: Also, ich mach zuerst’n Feuer, und dann hab ich’n Pferd, und dann muss sofort’n ganz dickes Ding passieren: Peng, peng! 


ADRIAN: Und ich stelle mich mitten hinein in unser Land und halte den Wind fest! 


ALLE: Bbbbbb! Bbbbbb! Bbbbbbbbbbb! 


MAX: Wie langweilig! Überhaupt so’n Spiel: Wäscheleine, Häuschen bauen. Das hält ja keiner aus, son Gefasel und Gesäusel. Wir stürzen ab! Knickkiste! Damit was passiert! Explosion, und alle Motoren reißt es auseinander! Knickkiste! Wir stürzen ab! Das ist es, was der Mensch erleben will!


THERESE: Nee, da spiel ich nicht mit (Sie steigt aus.) 


HANS: Therese! Du hast doch’n Fallschirm! 


THERESE: (Steigt wieder ein) Wo muss man denn ziehen, dass der aufgeht? 


MAX: Fallschirm? So was ist doch gar nicht eingebaut in dem Spiel. Alle Mann stürzt ab und Ende der Vorstellung! (Er reißt Schrubber und Besen vom Stuhl und schleudert sie in die Kulisse. Max und Hans spielen abstürzendes Flugzeug.) 


ADRIAN: Aber, nein! Ganz im Gegenteil! Alle Mann springt ab und fliegt! (Gibt das Kommando.) Alle Mann – springt ab – und fliegt! 


(Therese und Hans springen ab und fliegen. Sie schlagen mit den Armen wie mit Flügeln – und das können sie jetzt sehr gut. Max hat sich auf den leeren Stuhl gesetzt; er spielt nicht mit. Adrian steht wie der Regisseur der Szene auf seinem Stuhl.) 


ADRIAN: Und so ist es eine ganz große Sache. Und so bereiten wir das vor. Und ihr werdet’s erleben: Jeder hat es dann gelernt. 


MAX: Da bin ich aber gespannt. 


THERESE: Mir nach! Schräg angesteuert die ganze Familie dort unten den Wald! (Therese und Hans steuern im Schrägflug einen Wald an.) Und drüber weg im Wellenflug die ganze Familie wie die Lufthüpfer! Mir nach! Und fliegt! Und fliegt!


HANS: Gnädige Frau?


THERESE: Mein Herr?


HANS: Wie gnädige Frau in der Luft liegen: Eine Sensation! 


THERESE: Danke, mein Herr! 


ADRIAN: Ich hab schon richtig was dazugelernt! 


THERESE: Dankeschön, junger Mann! 


MAX: (Hat einen Einfall und spielt wieder mit) Und der Max Mielnickel, der fliegt jetzt in der Rückenlage! (Er dreht den Tisch um, legt sich mit dem Rücken auf den Tisch und rudert mit den Armen.) 


THERESE, HANS, ADRIAN: Bravo!


MAX: Das ist überhaupt das Allergrößte: In der Rückenlage! 


THERESE, HANS, ADRIAN: Bravo! 


MAX: Sozusagen aus’m Ärmel geschüttelt, der Max Mielnickel, wie er das gemacht hat! 


THERESE: Das ist schön! Den ganzen Tag die Wolken durchgeschlagen: Wie einen Pudding! 


HANS: (Schlägt die Wolken durch) Wie’n Pudding! Wie’n Pudding! 


THERESE: Pssssst! (Flüstert.) Und auf einmal wird es dunkel, und der Abend meldet sich an, und wir landen. 


(Therese und Hans landen weich; Max lässt sich vom Tisch fallen.) 


THERESE: Wir landen in einer großen Schokoladentorte! Und jeder in den Bauch gestopft, so viel er hineinkriegt! 


MAX: Nee. Ich lande in einem Feld aus tausend Currywürsten! 


HANS: Und ich lande in einem Riesenfass Bier und geh sofort unter: Glucker, glucker, glucker … 


THERESE: So, das war’s dann für heute. 


MAX: Was? Schon zu Ende? 


THERESE: Es war schön, und nächsten Sonntag spielen wir’s weiter. 


ADRIAN: Es war sehr schön … 


MAX: Ziemlich schön. Dann geh ich mal wieder in die Küche und mach mir’n Butterbrot. Ich hab nämlich Hunger. Und dann wird hier wieder mal’n bisschen Fußball gespielt. Räumt schon mal das Zimmer leer. 


THERESE: Ja, Max. 


(Max ab in die Küche. Hans stellt Stühle und Tisch beiseite.)


THERESE: (Sehr lieb) Adrian, so, wie wir das eben gespielt haben, so kanns doch genug sein. 


ADRIAN: Nein. Für mich nicht. Und du weißt das. Es war schön, ja. Aber nur ein Spiel und ein bisschen davon geträumt heute Nacht – das ist es nicht, wie ich es will. 


THERESE: Traust du dir das wirklich zu? So ein Abenteuer in die Welt hinaus? 


ADRIAN: Ja. 


THERESE: Vielleicht. Ja. Du hast sehr viel Kraft, und die willst du ausprobieren. 


ADRIAN: Ja. 


(Therese fasst zärtlich einen Flügel an und betrachtet ihn.) 


HANS: Wir werden halt in Schribbsdorf bleiben. Hier kennen wir die Leu te und die Häuser … und damit muss es halt genug sein. 


ADRIAN: Aber, nein! Fliegt doch mit! 


HANS: Nein. Es geht nicht. Leider. Hier sind wir zu Hause und nicht irgendwo im Schokoladentortenland. 


THERESE: Uns sind nun mal keine Flügel gewachsen. (Sie spürt, dass ihr die Tränen kommen werden, und sie läuft in die Küche.) Max? Wo steckt denn der Max? 


HANS: (Läuft, ihr hinterher) Aber Therese, warum lässt du mich denn hier allein? Der Max … der ist doch nicht davongeflogen! 


ADRIAN: Aber ich fliege davon. In ein Land: ganz unbekannt und neu. Und dort sind alle Farben, die ich noch nicht kenne, und alle Gerüche, die ich noch nicht kenne, und es dreht sich, und ich kann es mir wünschen, und ich kann es haben, und wenn ich da hineingefallen bin wie in einen großen Heuhaufen, brülle ich, brülle ich, so laut ich kann: Ich bin da! (Ruft über die Schulter) In hundert Jahren mach ich euch einen Besuch! 


(Adrian fliegt durchs Schlafzimmerfenster davon.) 




ENDE