Blog-Archiv
-
▼
2023
(9)
-
▼
Januar
(9)
- Peter Welk Texte, Bühnen-Programme, Literaturkon...
- Biografische Notiz
- + Willkommen im Schmierentheater (Theater-Grotesk...
- + Weit übers Meer und dann links Theaterstück für...
- + Weit übers Meer und dann links – fünzig Jahre s...
- Affe im Haus (Düsseldorfer Schauspielhaus, Mainzer...
- + Karneval der Tiere – neue Texte zu Saint-Sans‘ K...
- + Simplicius Simplicissimus (Bühnenfassung) Hans ...
- + Gestatten, Don Quichotte! (Literaturkonzert) I E...
-
▼
Januar
(9)
+ Willkommen im Schmierentheater (Theater-Groteske)
(Proben-Foto: Dieter Prochnow und Peter Welk,2020, Bühne des Wilhelm-Fabry-Museums, Hilden)
PERSONEN Eine Schauspielerin, zwei Schauspieler: Christiane (Delia), Dieter (Adam Abend), Peter (Buddy Buntbusch). Keine Dekoration. Ein altes Grammophon steht seitlich.
Die Erzähl-Texte sind kursiv gesetzt und werden wie Regie-Informationen ans Publikum weitergegeben, die Dialog-Texte (Spiel-Texte) sind regular gesetzt.
ERSTE SZENE (Die Darsteller kommen auf die Bühne)
PETER Es ist eine ganz und gar fragwürdige Geschichte, die wir Ihnen heute auftischen, verehrtes Publikum, fragwürdig, an den Haaren herbeigezogen, aberwitzig – und zwei Bühnenfiguren prähistorischen Kalibers, Adam Abend und Buddy Buntbusch, spielen darin die Hauptrollen. Eine Geschichte, die bisher auch nur als Entwurf existiert (vielleicht wird einmal ein Theaterstück daraus). Wir treten also vor Sie hin mit dem Manuskript in der Hand, und wir rufen Ihnen zu: Willkommen im Schmierentheater!
DIETER Der Friedhof von Mulm liegt in der Septembersonne. Verlassen und unwirklich. Der Friedhofsgärtner hat seine Gießkanne in den Schuppen gestellt, eine Motte ist über die Friedhofsmauer geflattert, ein lautloser Wind weht Staub von einem Grabstein, der ohne Inschrift ist. Sonst geschieht eine Weile nichts.
CHRISTIANE Irgendwann kommt ein Hut. Eine Frau unter einem fliederfarbenen Wagenradhut. Eine junge Frau. Sie lächelt. Es ist ein Lächeln aus lauter Ausrufungszeichen, so könnte man es deuten. Die junge Frau bleibt vor dem Grabstein stehen und sieht sich um. Suchend. Und geht weiter. Ihr Lächeln hat sie zurückgelassen.
DIETER Eine Weile geschieht nun wieder nichts.
PETER Unvermittelt sehen wir dann von links den achtzigjährigen Buddy Buntbusch auf den Grabstein zusteuern. Murmelnd.
DIETER Und gleich darauf von rechts den achtzigjährigen Adam Abend. Suchend.
PETER Buddy Buntbusch war einmal ein unerschrockener Operettenbuffo, der in den großen Augenblicken seiner Kunst ein geradezu erotisierndes Hohes C auszustoßen in der Lage war – der später dann, als das Hohe C für ihn zunehmend zu einer schönen Erinnerung wurde, einem gelegentlichen Abstecher in die gehobene Schauspielerei nicht aus dem Wege ging.
DIETER Auch Adam Abend war eine Theatergröße. Weniger eine schillernde wie Buddy, eher eine festgemauerte wie der klassischer Apoll.
PETER Der Friedhofsstimmung angemessen, tragen die Herren schwarze Anzüge …
DIETER … die jedoch – und das fällt auf – nicht für sie gemacht zu sein scheinen. Speckig sind die Anzüge auch.
PETER Buddy Buntbusch ist vor dem Grabstein stehen geblieben. Er sieht sich um. Unauffällig. Und nach einem Augenblick des Besinnens beginnt er wieder zu murmeln. Mit geschlossenen Augen. Vor einer Ewigkeit hat er bei den Stiezeldorfer Sommerspielen die Hauptrolle in Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg gespielt, einige Textstellen sind ihm von damals im Gedächtnis geblieben. Wenn man genau hinhört, hört man ihn murmeln:
Nun, oh Unendlichkeit, bist du ganz mein,
Du strahlst mir durch die Binde meiner Augen
Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu …
DIETER Adam Abend ist näher herangekommen. Und steht jetzt neben Buddy. Adam hat genau hingehört. Und er mischt sich in Buddys Gemurmel ein: Unsterblichkeit! korrigiert Adam.
PETER Wie … wie meinen Sie?
DIETER Unsterblichkeit muss es heißen! Nun, oh Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
PETER Buddy winkt ab. Die Unsterblichkeit kommt für unsereinen nicht in Betracht. Über mir die Unendlicheit aber vielleicht bald! Das Herz pumpt nur noch auf Reserve, Atemnot beim Treppensteigen! Im Übrigen: Sie stören einen künstlerischen Prozess! Moment mal: Kenne ich Sie irgendwoher?
DIETER Adam Abend nickt knapp. So, als halte er es für selbstverständlich, dass man ihn kennt. Dann zitiert er aus Kleists Drama, unauffällig sich umschauend, seine Lieblingszeilen:
Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern,
Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist;
Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt,
Die muntre Hafenstadt versinken sieht … Adam Abend weiß nicht weiter, er hat, wie man im Theaterjargon sagt, einen Hänger …
PETER … und Buddy Buntbusch übernimmt: So geht mir dämmernd alles Leben unter.
DIETER Im Gedenken an Heinrich von Kleist geschieht nun eine Weile kaum etwas. Die Herren Buntbusch und Abend sehen sich nur hin und wieder um. Verstohlen. Suchend.
PETER Währenddessen wollen wir aus der Gegenwart kurz in die Vergangenheit zurückgehen und das Zusammentreffen auf dem Friedhof von Mulm näher beleuchten. Eine rätselvolle Nachricht hat die beiden Theatergrößen hier zusammengeführt.
DIETER In einem Brief mit dem handschriftlich eingetragenen Absender D. T. wurde ihnen eine Liebhabergrabstätte samt unbehauenem Granitstein zu ewigem Nutzen kostenfrei in Aussicht gestellt. Näheres beim Lokaltermin, hieß es am Ende des Briefs, der in fliederfarbenen Kuverts den beiden mit der Post zugestellt worden war.
PETER Tag und Uhrzeit eines Besichtigungstermins der Grabstätte waren angegeben. Ein genauer Lageplan ebenso. Auch an Reisegeld für die Zugfahrt hin und zurück Mulm plus Spesen für einen vierzehntägigen Aufenthalt hatte man großzügigerweise gedacht.
DIETER In einem PS schließlich war in Großbuchstaben vermerkt: Die Offerte richtet sich an Bewerber mit Theatervergangenheit, der Nachweis muss am Granitstein erbracht werden. – Gehen wir zurück in die Gegenwart.
PETER Buddy Buntbusch denkt gerade an den Dichter Heinrich von Kleist: Er sieht ihn am Berliner Kleinen Wannsee stehen, Kleist hält sich eine Pistole an die Schläfe.
DIETER Auch Adam Abend sieht den Dichter und den Wannsee, und er lässt es sich nicht nehmen, noch einmal aus Kleists Drama zu zitieren: O Gott der Welt, musst es bis dahin kommen?
PETER Und Buddy raunt es wie ein Echo zurück: Fort! Mit der Welt schloss ich die Rechnung ab.
DIETER Worauf von Adam Abend noch zu hören ist: O, Erde, nimm in deinen Schoß mich auf!
PETER Wer … wer sind Sie? Kollege? Muss ich Sie kennen? Im Augenblick weiß ich nicht, wohin mit Ihnen … Allgäuer Operettenstadel?
DIETER Nein, nimmermehr, mein Prinz! Was sprichst du da? Adam Abend wechselt die Tonlage: Wie lange ist das her! Ich war einmal, oh Gott, wie lange ist es her? … Ich war einmal der Liebling der Presse … da habe ich zufällig einen Zeitungsausschnitt in der Jackentasche, der an die glorreichen Zeiten erinnert! In Sekundenschnelle hat Adam den Ausschnitt in der Hand, wedelt damit nach links und rechts und präsentiert den Text aus dem Gedächtnis: Wieder einmal gab sich ihm das entzückte Publikum ganz hin: Ihm, Adam Abend, dem Frauenniederringer, dieser Theaterverführung von einem Meter sechsundachtzig! – Hier hat die Presse allerdings übertrieben, ich war immer nur einsvierundachtzig.
PETER Auch Buddy Buntbusch hat nun wie zufällig einen Zeitungsausschnitt aus der Jackentasche gefischt, und während Adam sich eine Pause für ein tiefes Durchatmen gönnt, zitiert Buddy: Er, Buddy Buntbusch, dieser Farbenverschwender unter den trostlos Einfarbigen heutiger Theaterkunst …
DIETER Buddy? Buddy Buntbusch? Waldbühne Stiezeldorf, die Hosennaht geht dir hinten auf, und das Publikum tobt, erinnerst du dich? Ich bins, Adam, du kennst mich!
PETER Eine Verwechslung. Ich kenne Sie nicht.
DIETER Mensch, Buddy, wie lange ist das her?
PETER Wenn ich Sie so ansehe, müssten Sie längst tot sein, ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie von mir?
DIETER Ich … entschuldige den Überschwang, Buddy … ich bin hier verabredet! – Du? Hast du den Brief geschrieben?
PETER Den Brief? Verabredet? Ich auch! Mit wem?
DIETER Keine Ahnung, mit wem …
PETER Verabredet? Noch immer Frauengeschichten? Adam Abend, der Unersättliche – jetzt erinnere ich mich! In deinem Alter? Dreiundneunzig oder so?
DIETER Was hat denn die Unersättlichkeit mit dem Alter zu tun, Buddy? Bei dir hat das Verlangen doch nicht etwa schon zu seinem natürlichen Ende gefunden?
PETER Buddy antwortet leicht tremolierend: Es muss was Wunderbares sein, von mir geliebt zu werden!
DIETER Sommerspiele Stiezeldorf! Unvergesslich! Du als Kellner Leopold im Weißen Rössl – ich der klassische Friedrich von Homburg! Nach dreißig Aufführungen kehrte ich Stiezeldorf damals den Rücken und bewarb mich in Berlin, und mit dir als mein Nachfolger in der Rolle – was hat der Regisseur sich bei dieser Neubesetzung bloß gedacht? – mit dir als Homburg hat sich der Kleist dann operettenhaft verflüchtigt.
PETER Ich war immer ein begnadeter Verwandlungskünstler, verehrter Kollege: In mir schlummerten der Leopold und der Homburg zu gleichen Teilen!
CHRISTIANE Der fliederfarbene Wagenradhut kommt wieder. Bleibt in der Nähe des Grabsteins stehen. Und geht nach einer Weile.
PETER Die beiden Friedhofsbesucher haben den Auftritt stumm und rätselnd wahrgenommen.
DIETER Das könnte … aber sie kann es nicht gewesen sein! Viel zu jung! Was meinst du, Buddy?
PETER Wer?
DIETER Delia!
PETER Delia?
DIETER Delia Talaan! Der Absender: D. T.! Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen? Was geht hier vor? Adam Abend tupft sich Schweißtropfen von der Stirn. Delia! Wir hatten eine Affäre damals, ach was, eine die Unsterblichkeit beschwörende … wie sagt man es? … kräftezehrende Liaison! Ich spielte den Homburg, sie die Natalie. Und wie ich ihr auf der Bühne gehuldigt habe! Auf der Hinterbühne auch!
O meine teure Freundin! Lasst mich sagen:
Schlingt Eure Zweige hier um diese Brust,
Um sie, die schon seit Jahren, einsam blühend,
Nach eurer Glocken holdem Duft sich sehnt!
PETER Du musst dich überhaupt nicht so aufplustern, Adam Abend! Nämlich: Kaum hatten sie dich als Homburg ausgemustert, hat man mit mir künstlerisch einen Neuanfang gewagt.
CHRISTIANE Der fliederfarbene Wagenradhut kommt wieder. Bleibt vor dem Grabstein stehen. Die junge Frau dreht sich den beiden Alten zu und sagt: Ich bin es nicht! Wir sehen uns aber ähnlich! Delia Talaan war meine Großmutter! Lächelnd geht die junge Frau ein paar Schritte weiter.
PETER Nach einem Moment des Spuckeschluckens hat Buddy die Sprache wiedergefunden. Also, sagt er – nein, er tremoliert es in Richtung des fliederfarbenen Huts – auch wir, jetzt muss es einfach heraus, Delia und ich, auch uns verband damals eine gnadenlos himmlische Romanze!
DIETER Wann genau?
PETER Das ist privat!
DIETER Vor oder nach meinem Homburg?
PETER Eher während!
CHRISTIANE Die junge Frau kommt wieder näher. Meine Großmutter war mit Ihnen sehr zufrieden, meine Herren sagt sie. Mit Ihnen beiden. Sie hat ein Testament aufgesetzt, das ich Ihnen überreichen darf. Eine Abschrift. Nehmen Sie! Das Original ist bei einem Notar hinterlegt. Die junge Frau gibt Adam Abend ein zusammengefaltetes Blatt Papier, auch Buddy Buntbusch bekommt ein Blatt. Die junge Frau schmunzelt. Verzeihend. Der Nachweis Ihrer Bühnenvergangenheit, meine Herren, der ist heute zwar ein wenig dürftig ausgefallen, aber in Ihrem Alter ist es natürlich sinnvoll, Überforderungen zu umgehen. Jedenfalls habe ich die Gewissheit: Sie sind es! Das Testament ist jetzt in den richtigen Händen. Und was in den nächsten Tagen für Sie zu tun ist, hat meine Großmutter in deutlichen Worten darin niedergelegt. Sie haben beide den gleichen Text. Stichtag ist der 30. September. Es bleiben Ihnen runde zwei Wochen, die Dinge zu einem glücklichen Ende zu führen, ich drücke Ihnen die Daumen. Unter dem fliederfarbenen Hut leuchtet ein Lächeln unerwartet strahlend auf, und die junge Frau geht aus der Szene. Es steht zu vermuten, dass sie später noch einmal ins Geschehen eingreifen wird.
PETER Hi … ihr zwei! Buddy hat einen schnellen Blick auf das Testament riskiert. Guckt fragend. Steht das so auch bei dir?
DIETER Adam nickt. Hi … merkwürdige Anrede! Lies du weiter! Ich höre zu. Die Erinnerungen trüben mir ein wenig den Blick.
PETER Buddy liest aus dem Testament. Aufgeregt. Meine Enkelin – sie heißt Delia wie ihre Großmutter – meine hinreißende kleine Delia hat mir geraten, meine Botschaft an euch beide mit Hi! zu beginnen. Das wirke frisch und jung, sagte sie. Und solange wir drei uns noch auf der Höhe des Daseins wähnen, meine ich, geht diese Anrede auch in Ordnung. Also noch einmal: Hi, ihr zwei! Und jetzt guckt nicht wie die Ochsen vor der Schlachtbank, oder vielleicht doch, denn eure geliebte Delia – sie ist zwar immer noch unter euch, aber sie ist tot. Buddy hält inne. Guckt irritiert zu Adam. Tot? Delia ist tot? Liest du weiter?
DIETER Bei der Bühnengenossenschaft ruft ihr an, dort wird man es euch bestätigen: Delia Talaan ist unlängst verstorben. – Lies du weiter!
PETER Auf dem Friedhof von Mulm soll meine Urne am … meine Enkelin wird euch das Datum genannt haben … beigesetzt werden. Also bin ich gewissermaßen schon mal drin in unserer letzten Ruhestätte! – Ich wiederhole: gewissermaßen in unserer! – Schreibt sie wörtlich! Was meint sie damit?
DIETER Und dort warte ich auf euch! … Was … was heißt das? Lies du weiter!
PETER Das glaube ich jetzt nicht! Da! Da steht es! Das schreibt sie uns! Uns, die wir sie geliebt haben! … Ich warte auf euch, schreibt sie! Ich warte auf zwei liebenswerte Loser! … So steht es da! … Ich habe mich über euch erkundigt, wollte wissen, was aus euch geworden ist … alles in allem, wenn man es ohne Umschweife zusammenfassen will, kann man sagen: Ihr beide seid vermutlich noch immer die zügellosen Kerle von damals, aber alles in allem auch zwei kolossal gescheiterte Existenzen! – Damit meint sie eher dich … was meinst du?
DIETER Im Angesicht des Todes ist Wahrhaftigkeit das Gebot der Stunde! Sie meint wohl eher dich!
PETER Du mit deiner Sprücheklopperei! Was hast du denn zuletzt gespielt, Adam Abend? Und wo?
DIETER Entschuldigung, Herr Kollege! Immerhin habe ich kürzlich eine Bewerbung beim lokalen Fernsehen untergebracht, dort sucht man Kleindarsteller. Sie drehen eine Doku über die Achtziger Jahre und stellen den Bewerbern einen möglichen Rollenanspruch in Aussicht.
PETER Einen möglichen? Oder nur einen Satz: Harry, hol schon mal den Wagen!
DIETER Immerhin!
PETER Sag es doch, wie es ist, Adam, Delia wird es mit beifälligem Nicken zur Kenntnis nehmen da oben: Wir waren ein Leben lang Schauspieler, über die Provinz sind wir aber nicht hinausgekommen. Du nicht und ich nicht. Und irgendwann hat man uns dann abserviert, kein Mensch erinnert sich mehr an uns, wetten?
DIETER An mich schon!
PETER … hier … hier schreibt sie: … zwei! Zwei gescheiterte Existenzen, aber – hör genau zu, Adam! – um so mehr drängt es mich, schreibt sie, euch zu sagen: Ihr beide wart fantastische Liebhaber! Adam, schreibt sie, du und dein zupackendes Pathos …
DIETER Das schreibt sie? … und Buddy du und deine hinreißenden Verlogenheiten!
PETER Das schreibt sie? …
DIETER Für jede Sekunde in euren Armen bin ich dankbar!
PETER Das gilt für euch beide! schreibt sie. Lies weiter!
DIETER Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich mich erkenntlich zeigen könnte …
PETER Hier also mein spätes Dankeschön an euch. Ihr wisst, ich habe Karriere gemacht. Ich war ein Star. Mein Begräbnis wird eine große Show werden mit Staatssekretär und Trallala. Delia Talaan, geborene Ernie Küchler, zur Welt gekommen in Mulm, gestorben vermutlich in LA (dort sitze ich gerade in meinem Bungalow und arbeite an diesem Testament) … Adam, LA! Da wollte ich schon immer mal hin!
DIETER Aber in Mulm werde ich mich begraben lassen. Eine großräumig ausgestaltete Grabstätte habe ich in Auftrag gegeben. Etwas wie der ägyptische Flügelwagen der Pharaonen soll es werden, der mich Richtung Theater-Olymp kutschieren wird. Und euch beide lade ich ein, mit mir dorthin zu fliegen! Dreimal Erster Klasse Olymp! – wie hört sich das an?
PETER Und? Was bedeutet das? Wir fliegen? Wohin denn jetzt? LA?
DIETER Auf dem Granitstein über dem Grab werden unsere Namen in Goldbuchstaben eingearbeitet sein, schreibt sie, zwei Naturburschen an der Seite einer unvergesslichen Schauspielerin, auf dass wir drei fortan gemeinsam unvergesslich sein werden. Gibt es für uns Theatermenschen verlockendere Aussichten? Also, worauf wartet ihr? Das Datum ist euch bekannt! Meine Enkelin wird euch beide von jetzt an unter unauffällige Beobachtung stellen …
PETER Privatdetektiv, vielleicht … Delia hat uns von da oben im Visier, oder wie … die reizende Enkelin lenkt nun unser Schicksal, oder was?
DIETER … von jetzt an unter unauffällige Beobachtung stellen! Und habt ihr es bis zu dem genannten Tag geschafft …
PETER Moment mal, geschafft? … Was denn? Das bedeutet …habe ich das gerade richtig verstanden? Lies noch mal!
DIETER Und habt ihr es bis zu dem genannten Tag geschafft – die Einladung gilt nur für euch beide zusammen, Einzelpätze werden nicht vergeben – so wird man uns in drei golden umschlungenen Urnen – die habe ich auf gut Glück schon einmal vorbestellt – gemeinsam Richtung Olymp tragen und dort abstellen bis in alle Ewigkeit.
PETER Urnen …?
DIETER Buddy, schreibt sie, ich weiß es, dein Herz betreffend ist Alarmstufe rot ausgerufen, ein langes Leben steht dir also nicht mehr bevor, das ist doch ein verheißungsvoller Einstieg!
PETER Adam, schreibt sie, du könntest auf tödliches Verdämmern setzen, mit dem bei einem Tragöden deines Formats jederzeit zu rechnen ist. Da hat sie doch recht!
DIETER Ja, leider, es fängt schon an! Wir schaffen das gemeinsam … schreibt sie.
PETER Wär doch gelacht … schreibt sie.
DIETER Eine Weile geschieht nun wieder nichts.
DIETER Wenn ich Delia richtig verstehe, Buddy, muss ich dich in den nächsten vierzehn Tagen umbringen …
PETER Warum?
DIETER Und dann du mich. Bis zum 30. September. Viel Zeit haben wir nicht. Oder siehst du eine andere Lösung?
PETER Darum geht es doch überhaupt nicht!
DIETER Sondern?
PETER Delia hat es doch angedeutet: Mein Herz arbeitet auf Verschleiß, höchste Alarmstufe, also darf ich mich der Hoffnung hingeben, bis zum Stichtag an einem Herzanfall gestorben zu sein, auf natürliche Weise, warum denn auch nicht? Das Unabwägbare aber bei der ganzen Angelegenheit bist du, Adam! Du könntest am Leben bleiben wollen, wenn es mich dahingerafft hat. Verdämmern … weiß der Henker, wann es bei dir so weit ist damit! Na, und dann ist es doch Essig für mich mit dem Flügelwagen. Ich werde in irgendein Armengrab einfahren müssen wie Mozart, weil du, entschuldige bitte, nicht den Mut zu einem Stich ins Herz mit dem Dolch aus der Requisite … ich bin völlig von der Rolle … aufzubringen gew-w-wollt hast …!
DIETER Buddy, warum stotterst du?
PETER Wir machen es so, Adam: Ich werde zunächst dich umbringen, denn mich ereilt der Herztod ohnehin termingerecht, und wir beide haben dann todsicher unser Pharaonengrab!
DIETER Buddy, mir graut vor dir!
PETER Ich versuche nur, es realistisch anzugehen, Adam. Unser Leben ist vorbei … was haben wir in unserem Alter noch zu erwarten? Sollten wir Delia nicht dankbar sein für so ein Angebot? Es kommt zur rechten Zeit, ein besseres kriegen wir nicht mehr!
DIETER Du bist auf einmal so unangenehm vernünftig, Buddy. Ich will es ja verstehen … du sagst …?
PETER Ich sage: Es ist eine Einladung an dich und an mich zu einem glanzvollen Abgang aus der Welt des Theaters! Da wirst du dich doch nicht querstellen, Adam!
DIETER Ich … ich schlage vor, Buddy, wir denken erst einmal darüber nach, du in deiner Hütte … wo wohnst du eigentlich?
PETER Vorübergehend hier in Mulm: Haus der Mimen eV, schon mal gehört? Eine Stiftung. Keulengasse 13, vierter Stock. Zusammen mit La Mouche Douse, der Süßen Fliege, eine Anarchistin! Mit der ich mir die Wohnung teile. So ist es billiger.
DIETER Eine attraktive Anarchistin?
PETER Als Anfängerin am Theater, erzählt man sich im Haus, soll sie mit Gretchen und Ophelia abgeräumt haben. Jetzt reicht es bei ihr nur noch für die Wahnsinsszenen. Den Wahnsinn, allerdings, den hat die Süße Fliege drauf! Wenn du willst, Adam, stelle ich sie dir vor, La Mouche Douse lässt keinen Mann im Regen stehen!
DIETER Interessant …
PETER Und du? Wo wohnst du?
DIETER Mal hier, mal da, mal im Männerwohnheim, augenblicklich kostenfrei bei den Benediktinern, verfallenes Kloster hier irgendwo in der Nähe, hab mich dort eingemietet, um die Spesen zu sparen, ein Uhu als Haustier, in meiner Klause zieht es wie Hechtsuppe! Ich sage es dir: Eine Folter!
PETER Na, das sind doch Perspektiven, Adam! Wenn aus dem Verdämmern auf die Schnelle nichts wird bei dir, versuchst du es in deiner Klause mit einer Lungenentzündung! Und wird auch daraus nichts, logierst du für ein paar Tage bei uns! Meine Anarchistin findet garantiert ein Mittel, dir den Garaus zu machen!
DIETER Hast du was auf der hohen Kante, Buddy?
PETER Warum?
DIETER Ich denke gerade … nur so ein Gedanke … schon erschreckend, auf welche Einfälle man kommen kann … ich denke da an einen russischen Auftragskiller, den könnten wir engagieren. Der geht dann auf uns beide los!
PETER Nacheinander?
DIETER In einem Rutsch!
PETER Da ist aber nichts auf der Kante, Adam. Leider. Anderer Vorschlag: Lass es uns getrennt versuchen, jeder erst einmal für sich selbst, sozusagen übungshalber! So ein plötzlicher Tod ist eine intime Angelegenheit, da will man doch erst einmal mit sich selbst allein sein!
DIETER Übungshalber? Wie meinst du das?
PETER In diesen Dingen haben wir noch keine Erfahrung, Adam, wie denn auch? Also müssen wir uns an den Tod herantasten! Wenn dann einer von uns, du oder ich, eine geeignete Methode gefunden hat, um … grrr … du weißt schon! Dann gehen wir die Dinge gemeinsam an.
DIETER Und wie … wie erfahre ich, dass du … angenommen, du hast es womöglich vor mir geschafft … und hast dich … aus Versehen, zum Beispiel … grrr?
PETER Schreibt Delia doch im Testament: Wir stehen unter Beobachtung! Hast du das vergessen? Wenn man mir die Kehle durchgeschnitten hat, Adam, wird es die Enkelin dich wissen lassen. Rechtzeitig. Dann hast du noch Zeit genug, dich dranzuhängen, und der Ägypterwagen ist für uns beide in Ewigkeit gebongt! Trinken wir ein Bier zusammen, Adam? Auf unser Wiedersehen? Ich zahle!
DIETER Und kippst mir heimlich Rattengift ins Glas? Kann es dir nicht schnell genug gehen?
ZWEITE SZENE
DIETER Anfangs wollten es die beiden Alten nicht wahrhaben. Ja, sie staunten über sich selbst, wie leicht es ihnen zu fallen schien, sich auf den Tod einzulassen.
PETER Kein Zögern. Kein donnerndes Nein! – wie man es von zwei gestandenen Exemplaren einer Kulturgemeinschaft hätte erwarten dürfen.
DIETER Im Gedanken an eine altägyptische Grabkammer samt ewigem Ruhm hatten Buddy Buntbusch und Adam Abend dem Tod weit ihre Sinne geöffnet.
PETER Schon auf dem Nachhauseweg fiel Buddy eine Operette ein, Die lustige Witwe, die damit beginnt, dass ein Bankier in der Hochzeitsnacht zu Tode kommt und eine liebestolle Witwe hinterlässt. Wie oft hatte Buddy als Graf Danilo die Witwe auf der Bühne zu trösten gewusst, und wie vielgestaltig hatte die Rolle des Grafen auch auf Buddys Privatleben abgefärbt. Der Tod, so erschien es Buddy, war ihm sein Leben lang ein treuer und einfallsreicher Begleiter gewesen.
DIETER Auch Adam Abend beschäftigte sich, heimwärts trottend, mit dem Tod, der in Adams Theaterkarriere eine prägende Gestalt darstellte. Im Jedermann, dem Spiel vom Sterben des reichen Mannes, hatte Adam den Tod als gespenstischen Weißkittel dargestellt, was in der Presse mit Erschauern registriert worden war. Als Tragöde, so wurde geschrieben, habe Adam Abend in der Rolle des Todes im Abgründigen geforscht. – Um Mitternacht wagte Adam dann, am Fenster seiner bescheidenen Klause stehend, in Gedanken einen Sprung vom Dach eines Hochhauses. In seiner Vorstellung sah er sich entseelt auf dem Straßenpflaster liegen, und er erinnerte sich an die Haltung vieler Fernsehtoten, die von Dächern gesprungen waren; ihrem Tod, so hatte es Adam immer empfunden, war auf dem Pflaster all seine Erhabenheit genommen. Sie lagen da wie weggeworfen. Einen solchen Anblick wollte Adam Abend der Nachwelt nicht hinterlassen. Auch im Privaten stehe er als Schauspieler vor seinem Publikum, entschied er, also kann es nicht die Nasenbohrnatürlichkeit der Fernsehschaffenden sein, die er hier als Stilmittel gelten lassen wollte. Er dachte da eher ans geformt Archaische! Seine Aufgabe sah er darin, einen Tod zu finden, der ihm einerseits Endgültigkeit versprach, und der andererseits seinem künstlerischen Anspruch genügte.
PETER Im Laufe der Woche geriet die Gedankenarbeit der beiden Todessuchenden dann aber zunehmend in den Hintergrund, und sie beschlossen – unabhängig voneinander – sich verstärkt im Praktischen zu engagieren.
DIETER Beide waren sie immer noch erschreckend lebendig, und die Zeit drängte. Blenden wir uns in den Freitag ein – gut eine Woche nach der Testamentseröffnung.
DRITTE SZENE
PETER Vom Mulmer Nikodemuskirchturm hat es gerade 12 Uhr geschlagen. Buddy Buntbusch geht die Schlachthofpassage entlang. An einer Straßenampel stoppt er. Wartet. Er ist nervös. Er schwitzt. Um ihn herum drängen sich Leute. Auf der Straße fließt lärmender Verkehr. Die Ampeln auf beiden Seiten der Straße stehen auf Rot – und springen auf Grün. Leute gehen los, Leute rennen, Leute haben die gegenüberliegenden Fußgängerwege erreicht, die Ampeln auf beiden Seiten springen auf Rot: Autos fahren an, Buddy tappt unsicher los, versucht sich im Schlendergang, Reifen quietschen, Fahrer fluchen, Autos kurven um Buddy herum, Buddy macht einen Hupfer wie ein Känguru, ein Zusammenstoß, beinahe, Buddy, atemlos, hat die gegenüberliegende Straßenseite erreicht, ist noch am Leben, wischt sich die Stirn, die Fußgängerampeln schalten auf Grün, Buddy steht, sieht sich um, irgendwo ein Privatdetektiv? Leute laufen los, Eile auf beiden Straßenseiten, Buddy steht. – Die Ampeln springen auf Rot: Autos fahren an, Buddy, zitternd, todesmutig, schlendert los, stolpert, Hupkonzert, Opel rammt Alfa, Blech bohrt sich in Blech, Buddy, im Sprint, hat keuchend die gegenüberliegende Straßenseite erreicht, steht, will umkehren, die Ampeln springen auf Grün, Leute laufen los, Buddy bleibt auf dem Bürgersteig stehen, schlotternd, und sagt mit ersterbender Theatralik zu sich selbst: Wie soll ich das Leben hinter mir lassen, wenn mir alle im Weg stehen! Dann geht er weiter auf dem Bürgersteig die Schlachthofpassage entlang. Sieht sich unruhig um. Wird er beobachtet?
VIERTE SZENE
DIETER Am Samstagnachmittag steigt Adam Abend im Klostergarten der Benedektiner eine Leiter hoch, langsam, zögernd, abwesend – in seiner Vorstellung sieht er sich bei einem mittelalterlichen Ritterturnier vom Gegner mit der Lanze bedroht – er erreicht Sprosse 11 über dem Gartenweg, unbewusst hat er mitgezählt, die Dachrinne am Ruhehaus der Ordensbrüder ist zu säubern. Adam hat sich freiwillig für diese Arbeit gemeldet, die Brüder hatten ihm signalisiert, er sei mit einer guten Tat im Rückstand. Nach kurzem Durchschnaufen steigt er höher bis auf Sprosse 21, Sprosse 22, der Rinne entgegen auf Sprosse 23, kann nun in das Blech greifen, der Eimer baumelt ihm an der linken Hand, Adams Brust liegt, die Kräfte ausbalancierend, auf den Leitersprossen, Adam schiebt mit der rechten Hand den Blättermatsch in der Rinne zusammen, der Matsch kommt in den Eimer, Adam schöpft den Restmatsch, dann, im Gedanken an einen ritterlichen Todesstoß, will er von der Leiter steigen, verliert den Halt, rudert mit den Armen, der Eimer scheppert auf den steinernen Gartenweg, Adam hängt an der rechten Hand von der Dachrinne herunter, Bruder Volkmar ist herbeigeflogen, Adam kann sich nicht halten, fällt, Bruder Volkmar fängt ihn auf, Bruder Volkmar hat sich beide Schulterblätter ausgerenkt, Adam bleibt unbeschädigt, Adam hilft dem Verletzten auf die Beine und murmelt: Bei Gott, Bruder, das wäre nicht nötig gewesen. – Dann sieht Adam sich um: Irgendwo die Enkelin? Ein Privatdetektiv?
FÜNFTE SZENE
PETER Am Sonntagabend treibt es Buddy Buntbusch in die untere Altstadt von Mulm. Buddy ist auf Angriff eingestellt. Am Domtheater Schönstein durfte er einmal in der Oper einspringen, in Carmen den Escamillio spielen, und daran denkt Buddy jetzt, als er auf eine Spelunke zusteuert, am Türsteher vorbeizieht und vor einer spitzbusigen Coctailtrinkerin stehenbleibt: Na, Schnecke, heute mal umsonst? fragt er. – Hau ab, Opa! – Ein Kahlkopf mischt sich ein: Probleme? – Buddy geht theatererpobt auf den Kahlkopf los: Auf in den Kampf Torero … ! – Lebensmüde, Opa? Der Kahlkopf hat Buddy eine gelangt, und Buddy findet sich vor der Tür in der Gosse wieder. Ein Polizist kommt näher, hilft Buddy auf und sagt: Gefährliche Gegend für Ihr Alter! – Buddy zuckt mit der Schulter: Ja, dumm gelaufen, hab mir mehr davon versprochen.
SECHSTE SZENE
DIETER Am Montagabend steht Adam auf der Mulmer Höllentorbrücke im Regen. Septemberregen. Spätseptemberregen. Fünf Grad Außentemperatur. Adam im dünnen Hemd. Klatschnass. Adam friert, Adam zittert, Adam niest und hustet, Adam fühlt sich sterbenskrank. Adam sieht sich in Gedanken von der Brücke springen, mit Hechtsprung ins kalte Wasser. Sportlich gesehen endet der Gedankensprung in der gewünschten Katastrophe, es klatscht unter Adam, Adam fühlt einen stechenden Schmerz, möglicherweise Todesschmerz, tief zieht es ihn ins eiskalte Wasser der Gedanken hinunter, beim Auftauchen aber fühlt Adam ungeahnte Lebensfreude, die Brust weitet sich, er hat ins Dasein zurückgefunden – durchatmen, Adam! Dann hält er die Luft an …
PETER Buddy … Buddy kommt auf ihn zu, greifend, mit ausgestreckten Fingern nach seiner Kehle greifend, so hat es für Adam den Anschein … dann steht Buddy neben ihm. Frierend. Meine Finger sind steifgefroren, Adam, Saukälte! Ein einziger Sprung, nicht wahr? – Und wir hätten es hinter uns!
DIETER Die Lebensfreude in Adam wandelt sich wieder zu bleierner Todessehnsucht. Wir … wir springen zusammen, Buddy?
PETER Auch ich habe hier gestanden, Adam, frag nicht, wie oft. Dann habe ich mich an ein Spätwerk des Operettenschöpfers Fred Wolle erinnert … Zwei Engel im Sturm, den Heinrich habe ich gespielt, der für seine Helga die Zugspitze hochklettert, und oben angekommen, fliegt er mit ausgebreiteten Armen zu ihr hinunter, aus Liebe, Adam, die Helga aber ist längst auf den Georg geflogen! – Ja, auch ich habe mich fallen lassen, hier von der Brücke, es war ein unaufhaltsames Schweben über den Abgründen des Daseins, und kaum war ich im Jenseits angekommen, hat mich ein Engel ins Leben zurückgestoßen, Adam. Springen ist keine Lösung, Adam. Das kriegen wir auch zusammen nicht hin!
DIETER Dann … dann erschießen wir uns? Du fängst an! Kleist, du erinnerst dich, am Wannsee hat er erst Henriette Vogel erschossen und dann sich selbst … Herrgottnochmal, wir haben doch ein Recht auf unseren Tod! Was hältst du von Erhängen?
PETER Adam – wir geben auf!
DIETER Aufgeben? Verzichten? Auf den Flügelwagen?
PETER Wir hätten erst gar nicht damit anfangen sollen! Begreifst du denn nicht, auf was für einen Irrsinn wir uns da eingelassen haben? Wir beide sind im Buch des Todes nicht vorgemerkt für goldene Inschriften! Du kannst im Lexikon nachschlagen: Wir stehen da nicht drin! La Mouche Douse, meine Mitbewohnerin, die Süße Fliege, die ja, die hat in ihrer Anfängerzeit am Theater versucht, die Kammerspiele Hagebühl in die Luft zu jagen, weil der Intendant nicht mit ihr ins Bett wollte, ist nicht viel passiert damals, aber die Explosion hat die Fliege immerhin ins Lexikon katapultiert, da steht sie jetzt drin: als Anarchistin! Unsereiner aber nicht. Dich und mich, Adam, rechnet das Schicksal, entschuldige die Offenheit, es rechnet uns der weltweit verbreiteten Spezies der Loser zu. So ist das! Es tut weh, das zu hören, ich weiß es, aber wir müssen es hinnehmen: Hilflos und hoffnungsvoll sind wir in diese Welt eingetreten, gescheitert und vergessen treten wir aus ihr wieder heraus!
DIETER Das hätte ich nicht schöner sagen können, Buddy!
PETER Ich hab‘ es in deinem Sinne gesagt, Adam! Entliehen bei Gerhard Hauptmann!
DIETER Ach, Buddy … was für ein Segen und Fluch zugleich, dass wir unsere Schriftsteller haben! Bei Tucholsky findest du die Anmerkung: Sterben ist, wie wenn man einen Löffel aus dem Kleister zieht. So ein Ende, fürchte ich, wird das Schicksal für uns herausgesucht haben. Ganz ohne Erhabenheit! Mir ist kalt!
PETER Mir auch! Buddy legt einen Arm um den frierenden Adam.
DIETER Adam sieht sich um. Er hat das Gefühl, man beobachtet ihn. Wir geben also auf … versuchen es mit dem Weiterleben … ob ich das noch kann? … Weißt du, Buddy, für mich ist das jetzt ein schwierig zu gestaltender Augenblick in meiner Biografie. Du weißt, ich bin Schauspieler durch und durch, und ich frage mich, wie zwinge ich all das Widerstreitende in mir zu einer glaubhaften Inszenierung zusammen? Für meine augenblickliche Gemütslage könnte ich einen guten Regisseur gebrauchen.
PETER Da spricht der Künstler in dir, Adam! In uns! In Unsereinem schlummert allzeit das Großartige! Mag es auch bis heute der Welt verborgen geblieben sein, aber es schlummert!
DIETER Auf unserem Weg durch das Dasein durften wir es nicht herauslassen! Vorsehung! Aber am Ende hätten wir es verdient gehabt, mit ewigem Andenken belohnt zu werden!
PETER Ach, mein Adam! Leidensbruder! Komm an mein Herz! Wir werden aus dieser Welt scheiden – bis zum 30. September schaffen wir es aber nicht, glaub mir, ich habe das Unmögliche versucht, todesmutig versucht, keinen Erfolg im Straßenverkehr, nur um dir ein Beispiel zu nennen, der 30. ist übermorgen, also – was bleibt uns denn übrig? Ich will es einmal so sagen: Unser Sterben wird, so unerträglich es für uns beide auch sein mag, es wird ein ganz natürlicher Vorgang sein.
DIETER Deinen Humor möchte ich haben!
PETER Hättest du ein Zitat zur Hand, Adam, etwas Tröstendes?
DIETER Schiller: Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze!
PETER Der Regen wird heftig.
DIETER In der Ferne donnert es.
PETER Es tut weh, Adam, wenn man begreifen muss: Auf Unsereinen hätte das Schicksal auch verzichten können!
DIETER Und plötzlich regnet es wie aus Kannen. Wir sehen die beiden Frierenden Hand in Hand schutzsuchend auf einen Baum zulaufen.
PETER Sich dort in den Armen liegen. Vielleicht sogar mit mehreren Schluchzern den Augenblick würdigend.
DIETER Über ihnen ein Vogel sieht sie auch und erleichtert sich. Adam, den es getroffen hat, guckt nach oben.
PETER Buddy guckt auch. Und Buddy … er lacht!
DIETER Und dann lachen beide! Schallend! Sie wissen nicht, warum. Sie schütten sich aus vor Lachen. Lassen sich bis auf die Haut vollregnen und lachen.
PETER Wer sind wir denn, Adam? Nieten oder Titanen! Egal! Zwei Theatertiere, die sich am Ende ihres Lebens gefunden haben! Und da sollen wir uns auch schon wieder herausbugsieren aus der gerade erst eroberten Zweisamkeit? Womöglich noch gegenseitig? Für ein Weib? Noch dazu ein bereits dahingeschiedenes? Adam, sag was!
DIETER Sind wir die Borgias, Buddy? Bringen wir uns gegenseitig um die Ecke, damit man in hundert Jahren noch über uns redet? Wie? Das Leben ist viel zu schön, als dass man ihm kaltblütig den Hahn zudreht … entschuldige, der Vergleich hinkt, aber ist es nicht so?
PETER Wer weiß überhaupt, ob Delia uns wirklich geliebt hat, Adam … hast du einmal darüber nachgedacht? Vielleicht war das alles nur heiße Luft! Die Geräusche einer mannstollen Diva! Und am Ende schickt sie uns ihre Enkelin mit dieser altägyptischen Todesofferte – ist es nicht so? – nur, um uns beide an ihrer Seite zu haben! Als Dekoration! Warum tut sie das? Das ist doch unanständig!
DIETER Schmierentheater!
PETER Wir beide, Adam, ich sage es laut und vorausschauend, wir beide werden noch eine ganze Weile im Leben herumfuhrwerken! Gemeinsam! Ohne Mord und Totschlag! Und trotzdem wird man sich an uns erinnern, so wahr mir Gott helfe!
DIETER Buddy, mein Lieber, ich höre ein Tremolo bei dir heraus, du führst etwas im Schilde … was?
PETER Ich habe einen Brief geschrieben!
DIETER Einen Brief? An wen?
PETER Ans Ordnungsamt hier in Mulm: Man möge im Falle unseres irgendwann zu erwartenden Dahinscheidens eine Straße nach uns benennen. Statt der Schlachthofpassage böte sich der Adam-Abend-Highway an, habe ich geschrieben, und aus der Kanonenallee könne man die Buddy-Buntbusch-Avenue machen!
DIETER Chaussee ginge auch!
PETER Herrlicher Vorschlag, Adam! Buddy-Buntbusch-Chaussee! Man wird sich an uns erinnern! Die Unsterblichkeit sichern wir uns über ein Straßenschild!
DIETER Und neues Leben blüht aus den Ruinen! – Schiller, Wilhelm Tell!
PETER Der Regen hat aufgehört. Wie aufs Stichwort.
CHRISTIANE Über die Brücke, auf die beiden Alten zusteuernd, schwebt der fliederfarbene Wagenradhut heran. Ein Windstoß hebt ihn, das Gesicht der jungen Frau darunter leuchtet. Was für eine wunderbare Idee, meine Herren! ruft die junge Frau. Sie klatscht Beifall. Lächelt. Kommt näher. Legt Buddy freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Sie können sich gar nicht vorstellen, mein lieber Buddy Buntbusch, sagt sie, wie erleichtert ich mich fühle. Was habe ich mir an Vorwürfen angehört, Vorwürfe, die ich mir selbst gemacht habe! Gewissenlos gehandelt zu haben! Von meiner Großmutter angestiftet, Ihnen den Tod schmackhaft gemacht zu haben! Ihre Eitelkeit geschürt zu haben, die Sie dazu verführen sollte, für ein bisschen Urnengold Ihr Leben aufs Spiel zu setzen! Gottlob – gottlob ist das an uns allen vorübergegangen! Wir disponieren also um, sagt die junge Frau, Ihre Namen werden aus der Begräbnisplanung herausgenommen, der Albtraum ist für Sie zu Ende. Stattdessen werde ich den freigewordenen Platz auf dem Granitstein mit den Namen zweier bereits verstorbener Kollegen meiner Großmutter auffüllen, mit denen sie gern und umjubelt zusamengearbeitet hat: Karlheinz Böhm und Horst Tappert!
P A U S E
SIEBENTE SZENE
DIETER Am Vormittag des 29. September ist Adam Abend auf dem Weg zum Haus der Mimen e. V. in der Keulengasse 13, und er knurrt. Jetzt erst recht! knurrt er. Und er knurrt: Diese Kanaillen! Adam hat es nicht eilig. Unterwegs bleibt er stehen, fährt sich durch die schlohweiß auflodernde Frisur und überdenkt sein Leben. Das er jetzt beenden wird. Muss. Könnte. Will. Ihm wird schwindelig. Karlheinz Böhm und Horst Tappert! Ausgerechnet diese zwei Pfeifen vom Film, die ihren bescheidener auftrumpfenden Kollegen die Ehrenplätze weggaunern wollen! Diese Kanaillen! Der Ausruf gilt Delia und ihrer Enkelin. Die es jetzt darauf anlegen, eine längst vergebene Gedenkstätte mit zwei Leinwandtoten zu bestücken, um … um den Begräbnisrummel aufzuhübschen, oder wie?
PETER Auf der Brücke hatte Buddy Buntbusch der Enkelin sogar mit dem Anwalt gedroht! Hatte vom Recht des ersten Zugriffs gesprochen!
DIETER Und er, Adam, wertete es geradezu als Infamie, dass man ihnen jetzt, gegen die Testamentsvorschrift, den Granitstein … kann man es so sagen? … unterm Hintern wegziehen will! Infamie! Grabschändung!
PETER Adam geht weiter. Aufgebracht. Knurrend.
DIETER Adam bleibt stehen. Warum, fragt er sich, warum fällt ihm gerade jetzt dieses Goethe-Zitat ein: Blut ist ein ganz besondrer Saft! Am Residenztheater Küngelen hat er einmal den Mephisto gespielt … Hansi Utz, der Regisseur von damals, hatte in der Figur des Mephisto ein Tier gesehen, er, Adam, plädierte für Krake, Hansi Utz bestand auf Vampir. Delia erzählte er am Telefon von der Inszenierung, sie spielte zu jener Zeit in Berlin Shaws Heilige Johanna. Dann … als er auf Stippvisite in Berlin bei ihr vorbeischaut, empfängt Delia ihn in ihrem Hotelzimmer auffallend leicht bekleidet und nach Blutorangen duftend in der Rolle eines lustsaugenden Großstadtvampirs. Was für eine Nacht!
PETER Im Gedanken daran brodelt es in Adam. Er denkt an die Enkelin …
DIETER … und die Enkelin lächelt ihn plötzlich fliederfarben an … ein ganz einzigartiges Gedankenlächeln … er könnte … könnte er ihr Großvater sein? Nicht daran denken, Adam … oder doch? Ein Lebensabend voll ungeahnter Seligkeiten tut sich plötzlich auf … Sein oder Nichtsein … ist das hier die Frage?
PETER Dann steht Adam vor Buddys Haustür. Auf dem Schild liest er: Mimen e. V. Adam klingelt. Der Türsummer summt.
DIETER Adam drückt die Haustür auf. Tappt durchs düstere Treppenhaus nach oben. Vor Buddys Wohnungstür im vierten Stock …
CHRISTIANE … erwartet ihn La Mouche Douce, Die Süße Fliege. La Mouche zündet ein Streichholz an. Leuchtet Adam ins Gesicht. Mit mir wird man schnell intim, sagt sie. Und wer bist du, Apollon?
DIETER Adam!
CHRISTIANE Komm rein und zieh dich aus! Die Süße Fliege gibt kichernd den Eingang frei.
DIETER Später, Allerschönste, vielleicht später …
CHRISTIANE Nur deine Jacke, Apollon, die Hose dann im Jenseits.
DIETER Im … im Jenseits? … Hat Buddy etwas … etwas angedeutet?
CHRISTIANE Die Süße Fliege kichert. Wirst es erfahren, Apollon, auf Fall und Knall! Die Fliege kichert herausfordernd. Ich bin deine Affäre für den letzten Akt, Apollon!
DIETER Was hat Buddy dir erzählt?
CHRISTIANE Hat er? Wer weiß? Wir sehen uns im Jenseits!
DIETER Eine Tür geht auf.
PETER Buddy Buntbusch kommt in den Flur. Adam, wir leben ja immer noch, verfluchtnochmal, warum?
DIETER Sie verfolgt mich, Buddy, in meinen Gedanken! Die Enkelin! Lilafarben und lächelnd!
CHRISTIANE Die Süße Fliege kichert. Das Los ist gefallen, verfolget die Weise – der Weg ist begonnen, vollendet die Reise!
DIETER Das ist …
PETER Die Fliege hat nicht mehr alle Tassen im Schrank! erklärt Buddy hinter der vorgehaltenen Hand.
DIETER Aber … aber das war Goethe, Buddy! Der Weg ist begonnen, vollende die Reise – westöstlicher Diwan! Klingt wie ein Orakel!
PETER Adam lässt sich von Buddy in ein Zimmer ziehen. Musik dröhnt ihnen entgegen.
DIETER Adam ist an der Tür stehen geblieben. Ich kann es nicht, Buddy!
PETER Wieso? Setz dich! Was kannst du nicht?
DIETER Ich kann mich nicht umbringen … einerseits sehe ich mich auf das große Verdämmern zurasen, um es einmal klassisch zu sagen … und dann wieder …wie soll ich es ausdrücken … sehe ich mich ans Leben angeschirrt. Plötzlich. Gegen alle Vernunft. Angeschirrt, wenn du verstehst, was ich damit sagen will! Ich bin Großvater geworden!
PETER Buddy stellt die Musik ab, die Lautsprecher verröcheln mit den letzten Takten von Spiel mir das Lied vom Tod.
DIETER Es klopft.
CHRISTIANE Die Süße Fliege lässt Buddy kichernd durch den Türspalt wissen: Romeo unten aus dem dritten Stock hat was für dich abgegeben!
PETER Buddy läuft der Fliege hinterher und kommt mit einem Arm voller Flaschen zurück. Adam, darauf habe ich gewartet! Cognac! Cognac vom Discounter! In der Wohnung unter mir, ein Kollege vom Schwanentheater Hepp, hat ihn für mich besorgt!
DIETER Buddy, wir müssen reden! Ein für alle Mal! Ernsthaft! Ich kann das nicht! Und ich will es auch nicht mehr!
PETER Was kannst du nicht?
DIETER Mich umbringen. Oder dich. Vielmehr … ich habe mich entschlossen … und das ist unumkehrbar, Buddy … freiwillig ins Armengrab einzufahren, irgendwann, vom Zufall angeschoben sozusagen, November, Dezember, Silvester, weiß der Kuckuck …
PETER Du willst damit andeuten, Adam …
DIETER Nicht andeuten! Ich bin entschlossen, auf den Flügelwagen der Pharaonen zu verzichten. Krieg ich einen Schluck?
PETER Buddy schenkt Cognac ein.
DIETER Adam leert das Glas in einem Zug.
PETER Noch einen, Adam?
DIETER Und du?
PETER Buddy gießt für beide die Gläser voll.
DIETER Du hast recht, Buddy … du hast ja recht, dieser Karlheinz Böhm und die andere Pfeife, die haben auf unserem Grabstein nichts verloren! Also will ich den Tod, und ich will ihn auch nicht, dann will ich ihn aber doch und am Ende: Was will ich? Kommen wir aus der ganzen Chose überhaupt noch lebendig heraus?
PETER Wollen wir das denn, Adam? Wollen wir das wirklich? Tod aus Altersschwäche, das wäre dann die bürgerliche Lösung für uns. Aber bürgerlich? Du und ich? Willst du dich in einer Kiefernkiste einsargen lassen? Wer sind wir denn, hast du dich das einmal gefragt? Du und ich: Zwei Bühnenfiguren prähistorischen Ausmaßes! Uns gibt es doch schon gar nicht mehr! Mit uns ist eine ganze Epoche dahingegangen! In der heutigen Theaterwelt haben wir beide doch überhaupt nichts mehr zu suchen. Einen heroischen Abgang, allerdings, den sollten wir unbedingt noch hinbekommen! Also! Lass uns einen letzten Versuch machen, Adam! Da stehen die Flaschen, wir saufen uns tot!
DIETER An dieser Stelle der Geschichte, verehrtes Publikum, machen wir einen Sprung. Wir überspringen zwei Stunden.
ACHTE SZENE
DIETER Und wir blenden uns nach den zwei Stunden wieder ein. Unterdessen war eine Sirene zu hören gewesen und ist nähergekommen. Es hat an der Haustür geklingelt.
CHRISTIANE Die Süße Fliege hat die Wohnungstür geöffnet …
PETER … und Buddy Buntbusch und Adam Abend haben gemeinsam eine Bewusstseinsstufe übersprungen.
DIETER Jetzt sitzen sie einander gegenüber auf dem Fußboden, Cognacflaschen bewegend, Gläser nachfüllend.
PETER Die zweite Nüchternheit, Adam, sie gehört zu den erfülltesten Zuständen im Leben eines Trinkers … sag was, Adam!
DIETER Es ist gar nicht einmal das Unvermögen in mir, Buddy, weiß Gott nicht, ich würde dich kaltblütig ermorden, wenn ich darin irgendetwas Höheres sehen könnte … glaubst du an das Höhere, Buddy?
PETER Je höher, desto lieber, Adam!
DIETER Krieg ich noch einen? … Danke. Prost, Buddy!
PETER Adam, zum Wohl!
DIETER An Höheres ich nicht, Buddy! Nämlich: Das Höhere ist in mir, solange ich bin. Man kann auch sagen: Ich trinke, also bin ich. Schenk mir noch einen ein! … Ich durfte sein, also trank ich, kann man auch sagen.
PETER Wöhlchen, Adam, wir … erinnerst du dich? Wir waren Schauspieler … in einer früheren Verkörperung … du mehr die deutsche Eiche mit dem auffliegenden Blattwerk, ich mehr der Mitternachtskaktus, der im Dunkeln blüht.
DIETER Es ehrt dich, Buddy, dass du in uns das Botanische entdeckst, du willst mir also sagen …
PETER Ich, Adam, bin für die Welt immer das verschwenderisch Blühende gewesen … In jeder Rolle ein anderes Sein, immer scheckig, und am Ende aller Lebensbereitschaft … nehmen wir noch einen?
DIETER Prost, Buddy!
PETER Am Ende meiner Wanderung durch alles Irdische, Adam, möchte der Mensch doch wissen, wer ich einmal war! Oder gekonnt sein hätte! Wer bin ich, Adam? Was ich damit sagen will … gieß mir noch einen ein!
DIETER Prost, Buddy!
PETER Adam, auf dein Spezielles! Was ich sagen will, ist doch das: Bin ich ich, wenn ich ich bin?
DIETER Oder so gefragt, Buddy: Wer wird ermordet, wenn ich dich ermorde?
PETER Genau! Weil, ich bin die Vielfalt, Adam, der Paradiesvogel unter den Graugänsen! Oder lass es mich so sagen …
DIETER Buddy, nimmst du noch einen?
PETER Prost, Adam!
DIETER Ich weiß, was du sagen willst, Buddy …
PETER Wenn wir aber in uns hineinsehen, Adam! Was siehst du?
DIETER Ich sehe nichts, Buddy! Da ist nichts! In mir ist nichts! In dir ist auch nichts. Wir sind Hüllen … ich die Hülle um mich herum, und du die Hülle in Fülle …
PETER Prösterchen, Hüllenadam … Lass es mich poetisch sagen: Ich bin ein von einer Hülle umstelltes Ich! Wohingegen du, Adam, du bist auch ein Ich, aber kein Ich wie ich, eher ein Ich an sich!
DIETER Wenn du gestattest, Buddy, nehme ich noch einen und werde zu einem Monolog ausholen … wer, so frage ich, sollte ich sein zu Beginn meiner Ichlichkeit? Und dann wurde aus mir Adam, das Othello-Ich! Das mordende! Hast du noch einen?
PETER Wir stehen immer auf der Bühne, Adam, sogar, wenn ich im Bett liege!
DIETER Wir sind nicht wie du und ich!
PETER Im Ich liegt Wahrheit, also sind wir!
DIETER Großväter! Wir sind Großväter, Buddy!
PETER Delia und der Großvater, ein Film mit Heinz Rühmann!
DIETER In Berlin, Buddy, kannten wir keine Verhemmung, Delia nicht und ich überhaupt nicht! Keine Verhütung im Sinne einer Verhinderung … und so wurde ich zum Großvater …Buddy, was ist los? Du schielst!
PETER Irgendetwas singet in mir, Adam … irgendwas singet in mir …
DIETER Wir sind Singende, Buddy, aus dem Leben Davonsingende … jetzt singt es auch in mir!
CHRISTIANE Die Süße Fliege guckt durch den Türspalt. Hält eine brennende Kerze in der Hand. Flüstert. Da ist der Engel mit dem Hut. War schon dreimal hier. Der will euch mitnehmen. Hab ich ihm gesagt, ihr seid schon auf der Reise hinauf zu ihm. Ist er nervös geworden. Hab ich ihm gesagt: Der Weg ist begonnen, vollendet die Reise … also dann im Jenseits, Apollon … Durch die Tür fliegt der fliederfarbene Hut. Die junge Frau bleibt stehen. Rückt den Hut gerade, schließt die Augen, atmet tief durch, sammelt sich und sagt: Meine Herren, ich sehe es mit großer Erleichterung – Sie sind noch am Leben! Ein bisschen jenseits aller Standfestigkeit, sehr sympathisch, aber ich nehme deutliche Zeichen eines ungebrochenen Überlebenswillens bei Ihnen wahr. Also, sagt sie, bin ich im richtigen Augenblick gekommen, das Schlimmste zu verhindern. Der Sanitätswagen wartet unten vorm Haus, habe ihn angefodert, aber ich weiß Sie beide schon bald wieder bei blühender Gesundheit, man sieht es Ihnen geradezu an!
DIETER Adam bemüht sich um ein Wort, er schafft aber nur ein ruckelndes Augenzwinkern.
PETER Buddy hebt den Kopf, kann ihn nicht in der Höhe halten, der Kopf fällt auf den Fußboden zurück, Buddy entgleitet in die Bewegungslosigkeit.
CHRISTIANE Die junge Frau nickt den beiden Davongleitenden zu. Und sie sagt: Ich muss mich für meine Großmutter entschuldigen. Ja, sie war immer sehr zufrieden mit den Herren Buddy Buntbusch und Adam Abend, den begabtesten Liebhabern, die das Theater ihrer Zeit für sie im Angebot hatte. Aber als Partner neben ihr auf der Bühne, sagt sie, hat sie die beiden unzählige Male zum Teufel gewünscht. Als Prinz von Homburg müssen Sie grauenhaft gewesen sein, mein lieber Adam Abend. Und Sie, Buddy, noch viel grauenhafter! Meine Großmutter ist an Ihrer Seite tausend Bühnentode gestorben – sehen Sie, und dafür wollte sie am Ende ihrer Tage ein wenig entschädigt werden. Man hat Sie beide in ein lebensgefährliches Spiel gelockt, und Sie sind gerne hineingetappt. Aber niemand wollte Ihren Tod! Für mich war es anstrengend, Sie unter Beobachtung zu halten! Ihren Tod zu verhindern! Einen Detektiv habe ich engagiert, Wummi Moskauf, guter Mann, den brauchen wir jetzt nicht mehr. Ich lege Ihnen ein Röhrchen Spalttabletten auf den Tisch, übermorgen geht es Ihnen wieder besser. Ich bin sicher, mit den Kollegen Karlheinz Böhm und Horst Tappert, deren Leichen wir überführen werden, wird Delia Talaan nun über allen Wipfeln, wie es so schön bei Goethe heißt, friedlich vereint in eine rosige Ewigkeit entschweben dürfen. Meine Herren … meine Herren? Hallo …? Hören Sie mich? Buddy? Adam? Um Gotteswillen, jetzt bloß keine Alkoholvergiftung, das hat mir gerade noch gefehlt! Ein Lebenszeichen, wenn ich bitten darf … kommen Sie zurück … was fällt Ihnen denn ein! – Die junge Frau rennt aus dem Zimmer … ruft durchs Treppenhaus die Sanitäter hoch in den vierten Stock … rennt nach unten … In der Küche dreht Die Süße Fliege die Gashähne auf …
DIETER Aus der Küche kommend, gibt es einen Wuff …
PETER Das Obergeschoss des Hauses hebt sich vom Untergeschoss ab und fällt in der Morgenluft von Mulm rauchend auseinander …
DIETER Adam Abend hebt den Kopf und flüchtet sich in ein letztes Zitat: Nun, oh Unsterblichkeit, bist du ganz mein …
PETER Und Buddy Buntbusch kann verröchelnd aus der Fledermaus hinzufügen: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist …
NEUNTE SZENE
CHRISTIANE In ihrer Ausgabe vom 4. Oktober berichtete die Mulmer Morgenpost vierseitig von den Beisetzungsfeierlichkeiten anlässlich der Heimkehr und Einäscherung der Mulmerin Ernie Küchler, die als Delia Talaan zur gefeierten Hollywoodschauspielerin geworden war. Dem Hilfswerk für unentdeckte Künstler – hieß es auf Zeitungsseite zwei – wurde eine Millionenspende der großen Schauspielerin zugedacht, die ihre Enkelin feierlich an Oberbürgermeisterin Agneta Klotz weiterleitete. Als besonderen Service – hieß es auf Seite drei – habe man im Rathaus einen Kondolenzraum eingerichtet, der auf unbestimmte Zeit durchgehend geöffnet sei. Den kondolierenden Mulmerinnen und Mulmern werde dort unter anderem Gelegenheit geboten, zwei ihrer Mitbürger kennenzulernen, Adam Abend und Buddy Buntbusch, deren Namen – eingeschrieben in goldenen Lettern auf dem Friedhofsstein links und rechts neben dem Namen der großen Delia Talaan – darauf hindeuteten, dass man der berühmten Mulmerin zwei geheimnisumwitterte Begleiter aus früheren Tagen auf ihrer Reise in die Ewigkeit zugesellt habe. Laut Auskunft der Enkelin soll es sich dabei, schrieb die Zeitung, um Theatergrößen von seltenem Rang gehandelt haben. Vom Schicksal just am Tag der geplanten Beisetzung – an der die beiden als Trauergäste teilnehmen wollten – durch einen Unglücksfall selbst zu Tode gekommen. Auf Wunsch der Enkelin wurden die Begräbnisfeierlichkeiten daraufhin verschoben, um den unerwarteten Ereignissen Rechnung zu tragen. Denn, so die Enkelin in einem Statement, sie gehörten künstlerisch immer zusammen, meine Drei: Delia Talaan, Buddy Buntbusch und Adam Abend. Das unerforschliche Schicksal hat sie nun auf ewig vereint. Als letzten Gruß rief die Enkelin ihrer Großmutter und den beiden Begleitern ein herzlich gemeintes Zitat zu: Der wahre Schauspieler ist überall Schauspieler, sogar auf der Bühne!
DIETER Und damit, verehrtes Publikum, hat sich der Vorhang im Schmierentheater gesenkt.
ˇ
PETER Und er hebt sich noch einmal für einen geheimnisvollen Augenblick.
DIETER Mir ist schwindelig, Buddy!
PETER Achtung, festhalten, Adam!
DIETER Buddy … wohin fliegen wir?
PETER Frag nicht! Festhalten!
DIETER Da unten … auf der blauen Kugel … was siehst du, Buddy?
PETER Nach oben gucken, Adam!
DIETER Ich sehe meine Vergangenheit, Buddy … von meinen Eltern war ich als Studienrat geplant.
PETER Ich hatte keine Eltern.
DIETER Oben … wartet oben niemand auf dich?
PETER Oh doch! Sämtliche Regisseure, denen ich unten so gern in den Hintern getreten hätte!
DIETER Das machen wir gemeinsam, Buddy! Ob wir mit Delia … ich will sagen … ob man da oben …?
PETER Wenn du mich fragst, Adam: Nach irdischen Regeln wird es für uns da oben nichts zu holen geben!
DIETER Nichts … gar nichts Handgreifliches, Buddy …?
PETER Erinnerungen, vielleicht.
DIETER Ich fürchte mich ein bisschen, Buddy. Was meinst du? Wie wird Delia uns empfangen?
PETER Die hat sich längst in einen Engel verknallt.
DIETER Und wir … hätten das Nachsehen?
PETER Ich wills mal so sagen, Adam: Zur Ablenkung gründen wir da oben eine Theater-AG.
DIETER Buddy … mir ist schwindelig … da kommt etwas auf uns zu!
PETER Festhalten, Adam!
DIETER Im Flügelwagen … ich sehe es ganz deutlich … der Chauffeur … Buddy, wer ist denn das? Das bist doch du! Achtung! Kurve!
PETER Der Friedhof von Mulm liegt in der Oktobersonne. Verlassen und unwirklich. Der Friedhofsgärtner hat seine Gießkanne in den Schuppen gestellt, eine Motte ist über die Friedhofsmauer geflattert, ein lautloser Wind weht Staub von einem Grabstein, den eine goldene Inschrift schmückt.
DIETER Sonst geschieht eine Weile nichts.
E N D E